IM RAUSCH

Ankmerkung: twenty one pilots in Hamburg und Berlin. Lang herbeigesehnt. Sehr emotional. Und zu einem gewissen Grad unbeschreiblich. In Voraussicht, dass die noch intensiven Eindrücke mit der Zeit verblassen, soll dieser Text als Erinnerung dienen. Da beide Konzerte für mich ein zusammenhängendes Erlebnis waren, verschmelze ich im Folgenden beide Perspektiven. Einmal Oberrang, einmal Innenraum, sechste Reihe. Der Text erzählt also eine Geschichte zweier Konzerte mit all den Details, Lyrics und Gefühlen, die die Abende für mich prägten. Achtung Fangirlalarm. Achtung Spoiler.

Frühlingshaft bahnen sich zarte Sonnenstrahlen durch die dreckverschmierten Scheiben der S-Bahn. Ein Wechsel aus Licht und Schatten fliegt über mein Gesicht, während die Bahn ihren Weg fortsetzt. Vorbei an Gebäudekomplexen, Kleingärten, Industriegebiet. Die Türen öffnen sich und einen, auf beheizbare Sohle gebetteten Fuß vor den anderen trete ich ungeduldig die letzten Meter an. Butterbrote in den Jackentaschen, die Zeit auf dem Handy stets im Blick.

Es ist kurz nach fünfzehn Uhr als ich an der Barclaycard Arena eintreffe. Eine Schlange an Wartenden ist bereits vor dem Eingang versammelt. Jemand hat eine Pizza bestellt.

Unter all den in Gelb und Camouflage gekleideten Menschen sucht der Bote nach einem Gesicht, das seine Bestellung entgegennimmt. Zwischen angeregten Unterhaltungen, hin und wieder das Geräusch von zerreißendem Tape. Ich setze mich auf eine Rettungsdecke, die über das kalte Pflaster ausgebreitet war. Auf Augenhöhe mit den, von gelben Streifen umschlungenen, Beinen der Fans. In fünf Stunden würde erst das Konzert beginnen.

Langsam färbt der frühe Abend den Himmel. Ungeduld breitet sich aus und es werden die letzten Reste des mitgebrachten Proviants durch die Reihen gegeben. So, wie vor einigen Stunden ein großes Plakat mit der Aufschrift „thank y∅u“, auf dem auch ich meinen Namen vermerkte. Kleine gelbe Zettel fliegen umher. Und plötzlich gibt es einen Ruck.

Die aneinandergedrängte Menge rückt noch näher zusammen. Anstatt eines erleichterten Aufatmens wird gespannt die Luft angehalten. Es ist 18:00 Uhr, der Einlass hat begonnen.

Hektisch taste ich prüfend meine Hosentaschen ab. Ticket, Ausweis, Schlüsselbund. Scheiße, wo ist mein Handy? Das habe ich in der Hand. Gut. Automatisch ziehe ich schon beim Durchschreiten des Eingangs meinen Mantel aus, reiche ihn meiner lieben Begleitung. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, dass viele dieselbe Idee verfolgen. Stunden vor der Venue ausharren, um dann die guten Plätze beim Anstehen für die Garderobe zu verlieren, war heut nicht drin.

Also fokussiere ich mich auf mein Ziel. Die riesige Bühne. Vor der sich eine, noch übersichtliche Menschentraube gebildet hat. In Gedanken wäge ich die mir verfügbaren Optionen ab. Die Show direkt mittig platziert sehen. Oder lieber etwas von der Seite, wo bisher deutlich weniger Leute positioniert waren. Eher rechts, wo das Piano stand.

Oder doch links vor dem Schlagzeug?

Ich traf eine Entscheidung und freute mich irrsinnig darüber. Allein die Vorstellung, so nah am Geschehen zu sein, dass ich auf das Leinwandgroßbild verzichten konnte und trotzdem die Gesichtszüge der Bandmitglieder erkennen würde, steigerte meine ohnehin große Aufregung um ein Vielfaches. Nicht nur mir schien es so zu gehen.

Gegen die Aufregung half auch keine Pseudo-Entspannungsmusik im Hintergrund. Ehrlich, warum spielte wer auch immer keine fetzigen Stücke, um die noch verbleibende Stunde zu verkürzen? Bis der Supportact das Konzert eröffnete, betrachtete ich also zu monotonen Beats ein Füllen der Ränge. Menschen als Ameisen mit gelben Köpfen.

Später wurde mir klar, dass diese Melodie dem Computerspiel Fortnite entstammte.

Pünktlich um zwanzig Uhr tritt ein junges Quartett ins Rampenlicht. Flankiert von zwei gigantischen Köpfen einer blauen Kreatur, rechts und links auf den Leinwänden abgebildet. Ob meine Rastlosigkeit der Grund ist. Ich raste komplett aus. Wie das verrückte Gesicht mit der ungesunden Hautfarbe.

Die lebendigen, frechen Melodien verursachen bei mir gute Laune. Und das, obwohl ich zugegebenermaßen die Vorband am liebsten übersprungen hätte. Sofort sollte die ersehnte Show beginnen. Gier, gebremst von einem gigantischen Sichtschutz für den geheimnisvollen Umbau. Doch dann.

Schatten zeichnen sich auf dem Vorhang ab. Abdrücke von Händen, im schwarzen Stoff nach Halt suchend. Ein fester Griff. Und zu donnernden Geräuschen aus den Lautsprechern wird mit einem Ruck die Bühne enthüllt.

Genauso schlagartig erlöscht das Licht und taucht die Arena in Dunkelheit. Sofort gilt die Aufmerksamkeit einer einzelnen Person, die eine letzte verbliebene Lichtquelle bei sich führt. Mit brennender Fackel leuchtet sich der Schlagzeuger Josh Dun den Weg über die Bühne. Ein gelbes Halstuch verdeckt das Gesicht. Zwei gelbe Diagonalen, die jeweils von den Schultern ausgehen, bilden ein Kreuz auf seinem Brustkorb. Der Schnittpunkt ist auf Höhe des Herzens.

Jumpsuit

Die euphorischen Schreie und ein tobendes Publikum hatte meine Wahrnehmung für die ersten Sekunden ausgeblendet. So sehr zog mich diese initiale Szene in den Bann. Doch ehe ich einen klaren Gedanken fassen konnte, zerrissen dröhnend eine familiäre Bassline und dazu passende Lichtexplosionen das Bild. Ein entschlossener Rhythmus treibt voran. Das Set wird mit dem ersten Song des neuen Albums Trench eröffnet. Mich ergreift eine Aufbruchstimmung, die Luft ist wie elektrisiert.

Dann öffnet sich der Boden. Drei Leinwände umrahmen ein Gerüst, das einer Zusammensetzung vieler Würfel ähnelt. Und vor dem sich nun aus dem Nichts ein ausgebranntes Auto erhebt. 

Überbleibsel des Songs Heavydirtysoul, der bei der letzten Tour die Show eröffnete und auch Teil im Musikvideo zu Jumpsuit ist. Über Motorhaube und Kofferklappe züngeln die Flammen empor, während Sänger Tyler Joseph auf dem Dach der Karre hockt. Eine schwarze Skimaske verbirgt das Gesicht. Auch ihn zieren die gelben Streifen, jedoch nur über den Schultern.

Die bedrohliche Schwere dieses Arrangements schlägt in der Bridge schlagartig zu einer hoffnungsvollen Sehnsucht um. Klischeehaft genieße ich diesen Moment, indem ich mit geschlossenen Augen meinen Kopf in den Nacken lege. Als etwas mein Gesicht streift.

Gelbe Papierschnipsel wie Rosenblüten rieseln von der Decke herab.

Neben mir recken einige Mädchen gelbe Blumen gen Bühne. Und vorher durch engagierte und organisierte Fans verteilte Papiersterne und Dreiecke lassen, vor die Handytaschenlampe gehalten, gelbe Lichtpunkte durch die Dunkelheit schweben. twenty one pilots haben eine ganze Welt mit in das Konzert gebracht.

Levitate

Fließend findet das zweite Lied Anschluss. Ohne Luft zu holen setzt Tyler zu dem schnellen Rap an, der den gesamten Song füllt. Überrascht bemerke ich, dass allen in meinem engen Umfeld ebenfalls die Zeilen auf den Lippen liegen. Wohingegen ich vor Faszination noch keines Wortes mächtig bin.

Lässig schlendert der Sänger über die Bühne. Rechts neben sich das Schlagzeug, in gelbes Licht getaucht. You can learn to levitate with just a little help und die Scheinwerfer gehen aus. Langsam sinkt das Auto wieder unter die Bühne. Die wärmenden Flammen erlöschen begleitet von einem Drumsolo, bevor tosender Applaus losbricht.

Fairly Local

Dunkelheit und ein ohrenbetäubendes Geräusch. Das Bedürfnis, mein Gehör schützen zu müssen, wird in dem Moment von der Sorge übertroffen, dadurch etwas zu verpassen. Doch bald verschmilzt dieser deformierte Klang zu einem hui hui hui, das in den Song Fairly Local einleitet. Unwillkürlich muss ich schmunzeln.

Der erste Song aus der Blurryface Ära an diesem Abend wird mit besonders lautem Publikumschor und einem Farbwechsel in der Beleuchtung bedacht. 

Zwischen Kunstnebel und blauen Lichteffekten erheben sich zwei quadratische Podeste, auf denen das Duo einige Meter über der Bühne verweilt.  Yo, this song will never be on the radio. Ich schreie ohne Rücksicht auf überstrapazierte Stimmbänder den Text. Als Tyler sich rücklings fallen lässt und in derselben Grube wie zuvor das Auto verschwindet, verschlägt es mir die Sprache.

Eine Sekunde später taucht er im Oberrang zwischen erstaunten Gesichtern wieder auf. Im Lichtkegel eines Scheinwerfers breitet der Sänger verheißungsvoll die Arme aus und setzt zum letzten Refrain an. Mit finalem oh zieht er sich kurzerhand die Skimaske über den Kopf. Die Besucher hörbar erfreut über den enthüllten Anblick.

Alle Augen richten sich wieder nach vorn. Wenden sich der riesigen Leinwand zu, auf der ein Video eingespielt wird. Aufnahmen einer Stadt. Straßen gesäumt von Häuserfronten, ein Zebrastreifen und volle Mülltonnen.

Eine rote Mütze, die durch diese unaufwändig gefilmte Kulisse kriecht. Dann plötzlich vom Deckengerüst der Arena an einem Drahtseil herabgelassen wird. Und kurz über dem Mikrophon des Sängers zum Halt kommt.

Tyler Joseph, mittlerweile seiner Camouflage-Jacke entledigt und ganz in schwarz gekleidet, trifft wieder auf der Bühne ein. Zum Kontrast den weißen Bass über die Schulter gehangen, schreitet er auf seine charakteristische Kopfbedeckung zu. Der Schlagzeuger schließt sich der Szene mit einem Rhythmus an, der das nächste Lied erahnen lässt.

Stressed Out

Mit einem verschmitzten Grinsen zieht sich Tyler die Mütze auf. Rotlicht. Dumpfes Brummen, das vor zwei Jahren nahezu aus jedem Radio ertönte. Gedanklich ein in-die-Pedale-der-Dreiräder-Treten und der Song setzt sich in Gang. Ein Satz, dann überlässt der Sänger den Zuschauern das Wort. Jede Silbe auswendig könnend. 

My name’s Blurryface and I care what you think. Die provozierende Rückfrage Tyler’s, what’s your name? My name’s Blurryface and I care what you think. Innehalten. Mit Freude quittiere ich, dass in der Bridge eine erfrischend abgewandelte Version der bekannten Melodie durch die Lautsprecher schallt. Gesang mindestens so beeindruckend wie auf Platte. Unvergleichliche Atmosphäre.

Wake up you need to make money. Entrüstet stimmt das Publikum in rhythmisches Klatschen ein, das durch die gesamte Arena hallt.

Vor dunklem Hintergrund mit erleuchtetem │- / Symbol beginnt der singende Part des Duos mit Turnübungen, die quer über die Bühne führen. Ein Sprung vom Piano, und wieder herauf. Das Mikrophon stets in der Hand. Begeisterte Pfiffe und Applaus. Erneute Dunkelheit. Allmählich mischen sich lila-grüne Farben in das schwarz. Eine Wolke umschließt eben jenes Instrument, das Tyler vor wenigen Sekunden als Sprungbrett benutzte. Nun sind es zwei Hände, die über Tasten wandern und stimmungsvolle Tonfolgen erklingen lassen.

Heathens

Allein die Farbkombination macht mir bewusst, dass sich an dieser Stelle ein Hit dem nächsten anschließt. Josh pausiert in seiner Schlagzeugkunst. Fokus allein auf seinen Freund und Bandkollegen, der gefühlvoll zu den ersten Zeilen von Heathens ansetzt. Das Publikum singt zur Klavierbegleitung. Intense. Nicht zu lang, dann steigen die Drums wieder ein.

Piano gegen Bass getauscht. Schwarz. Es folgt meine Lieblingsszene. Während jeder Besucher zu einem „hands up, hands up“ von Tyler beide Gliedmaßen in die Höhe streckt, motiviert zum Takt auf und bewegt, schwingt der Sänger wie wahnsinnig sein pechschwarzes Instrument umher. Hält es, als könne er sich damit im Notfall verteidigen. Watch it, nachladen. Why’d you come, you knew you should have stayed.

Der Beifall und die Schreie werden lauter. Josh Dun im gelben Lichtkegel, der präzise die Drums bearbeitet. Ein flinker Rhythmus.

Die erste Reihe bereitet sich für den nächsten Programmpunkt vor. Schiebt sich Sonnenbrillen auf die Nasen. Aber anstatt der erwarteten Stimme Tyler’s, heißt eine aufgenommene Ansage uns zur Show willkommen. Und stellt unter erquickten Ausrufen den Mann hinter dem Schlagzeug vor. Bekannt für seine „dope beats and the freshest bed sheets. He appears offline but he sees your tweets. We are all his dad, don’t mess with our son. Look out baby, it’s Joshua Dun“. Ich weine, vor Lachen.

We Don’t Believe What’s On TV

Nun gesellt sich Tyler wieder dazu. Neues Outfit. Eines, das seinem Vater am wenigsten gefällt, wie er nebenbei verrät. Weißes Shirt, darüber ein Kimono mit Blumenmuster. Sonnenbrille. Die Ukulele fest im Griff. Und auch seinerseits begrüßt er das Publikum, wünscht in Berlin einen schönen Valentinstag. Verbunden mit der Widmung des nächsten Songs an seine Frau.

Über den vorderen Reihen sieht man gelbe Herzluftballons fliegen. Um mich herum liegen sich Besucher in den Armen. Und stetig wird das Geschehen vom Schlagzeugrhythmus untermalt. Für den Song We Don’t Believe What’s On TV weist uns der Sänger in einen konzertüblichen Ablauf ein. Betont, dass Band und Zuschauer gemeinsam verantwortlich sind, die Show auf die Beine zu stellen.

Also bringt Tyler sein gitarrenähnliches Zupfinstrument in Position für die ersten Akkorde. 1. 2. 3. Auf Kommando schreit es seitens des Publikums ein „yeah yeah yeah“.

Das schnelle Tempo des Songs lädt zu ausgelassenem Umherzappeln ein. Ich schüttele all den Stress von den Schultern. Diese tragen heut einzig die Last meiner Arme, wenn ich sie zu euphorischem Winken über Kopf hebe. Wie es bei der Zeile I don’t care what’s in your hair. I just wanna know what’s on your mind der Fall ist.

Der gesamte Innenraum verschwindet in einem Meer aus Armen. Gleichmäßig wogende Wellen, die bis auf den Oberrang überschwappen.

Fast hätte ich, in meinem vor Glück berauschten Zustand, nicht darauf geachtet, wie Josh von seinem Schlagzeug ablässt. Und zu seiner Trompete greift.

The Judge

Na na na na oh oh. Der nächste Titel im Set wird ebenfalls verzückt in Empfang genommen. Von einem Publikum, das ausnahmslos zu jedem Lied mit einstimmt. Niedlicher Klang der Ukulele vermengt mit versonnenem Singen der ersten Strophe. I don’t know if this song is about me or the devil. Der Gesang wird entrüsteter. Hallt dann zum Refrain hemmungslos durch die hüpfenden Reihen. Kein besserer Platz zum Verlauten schiefer Töne, als beim free von The Judge. Und das mit jeder Wiederholung selbstsicherer.

Bevor ein „Josh Dun, you’re the judge. Set me free.“ den Abschluss bildet. 

Abermals wird die Bühne von Dunkelheit erfüllt, bevor gelbes Licht wie Sonnenstrahlen durch das Geäst eines, auf den Leinwänden abgebildeten Dschungels fällt. 

Cut My Lip

I don’t mind at all. Lean on my pride, lean on my pride. I’m a lion. Tyler, der sich den weißen Bass auf den Rücken geschwungen hat, schlendert mit ausgebreiteten Armen über die Bühne. Singt stumm diese Zeile. Mehr als zehntausend Menschen leihen ihm ihre Stimmen. Zeit spielt schon lange keine Rolle mehr. Tausend Eindrücke. Die Atmosphäre ist losgelöst. Ich lasse mich treiben auf der Musik. Noch einen Moment. Dann.

Lane Boy

Blau umnebelt wirkt die Melodie, verglichen mit vorheriger, distanziert. Kühle Ausstrahlung. Die jedoch nichts mit der tatsächlichen Temperatur in der Arena gemeinsam hat. Grund, warum Josh derzeit shirtlos den Takt angibt. Vom Tanzen ist mir auch nicht nur warm ums Herz geworden. If it wasn’t for this music I don’t know how I would have fought this. 

Eine Hand am Mikrophon, den blumigen Kimono über das Gesicht gezogen. Bis zum zweiten Refrain, nach welchem sich Tyler der guten Stimmung im Pit vergewissert. Der Schlagzeuger stellt sich auf seinen Hocker. Während der Bandpartner das Publikum mit einem „get down looooooow“ dazu bewegt, auf dem Boden zusammenzukauern. Zwei in weiß gekleidete, hinter Gasmasken verborgene Figuren betreten die Bühne. 

Die Luft ist zum Zerreißen gespannt.

Warten auf ein Zeichen. Dann erheben sich alle, im Innenraum versammelten Menschen. Springen ungehalten zu den explodierenden Kunstnebelfontänen, die den Bühnenrand säumen. Blick auf die Maskenträger, die das Zentrum des Geschehens ihrerseits unsicher machen. Ebenfalls Patronen in den Händen, die mit CO²-Effekten das Publikum einnebeln. Ein willkommen frischer Windzug. Und Tyler, wieder den Kimono über dem Kopf, tanzt wie ein Irrer im Hintergrund über die Bühne.

Daneben Josh am Schlagzeug, der auf seinem Podest emporgehoben wird. Gleichzeitig fahren quadratische Scheinwerferkränze herunter. Umschließen die Plattform. Und als schon tosender Beifall entbrennt, setzt ein krachendes Drumsolo ein. Grüne Lichter blitzen auf, zwischen ihnen der Schlagzeuger in seinem Element.

Nico and the Niners

Ein Wechsel findet statt. Eine spektakuläre Lasershow, die zuvor die Menge mit bunten Fäden überzog, färbt sich gelb. Die, von dem Würfelgerüst gebildete, Bühnenrückwand schimmert golden. Über sein weißes Shirt hat Tyler ein gelbes Hemd gezogen. Die Finger zieren Ringe, aus ebenfalls gelbem Tape. I’m lighter when I’m lower. Hingehockt verdeutlicht der Sänger die Zeile aus einer der ersten Singles zum aktuellen Album Trench.

In jeder Bewegung die Melodie, während er die Breite der Bühne vollständig damit füllt. Und darüber hinaus. Ich wende mich nach rechts. Der Scheinwerfer wirft einen Lichtkegel an den äußeren Rand der Stehplätze. Wo sich Besucher ungläubig an einem provisorisch gespannten Seil aufreihen. Sie begrenzen den Weg zur B-Stage, den Tyler in der zweiten Strophe von Nico And The Niners antritt.

Neon Gravestones

Ein Piano und Schlagzeug finden sich gleichermaßen auf der kleineren Bühne im hinteren Teil des Innenraums wieder. Nur spärliche Beleuchtung zeichnet schemenhaft die Silhouette des Sängers ab. Dessen dramatisches Klavierintermezzo geleitet nun Josh zum zweiten Schauplatz, ebenfalls ein gelbes Hemd tragend. Aus der gespannten Atmosphäre tritt allmählich die Melodie der Mondscheinsonate Beethoven’s in Erscheinung.

Das Intro zum nächsten Song. Ein ruhigerer Abschnitt des Abends beginnt. Tiefes Durchatmen. Zwischen zarter Traurigkeit und Sentimentalität. Über der Bühne scheinen Tropfen aus Licht an Stangen eines gigantischen Kronleuchters herabzurinnen. Sich zu Mustern zu formieren. Im Zwielicht blitzt ein Totenkopf auf. Neon gravestones try to call for my bones.

Bandito

Punkte gelber Taschenlampe schweben wie kleine Glühwürmchen durch die Luft. Gefühle sickern aus den Augenwinkeln. Und der ausdrucksvolle Gesang wird leiser. Es schließt sich das Lied Bandito an. I could take the high road. But I know that I’m going low. I’m a ban- I’m a bandito. Das Publikum wird erneut zum Chor, singt ergriffen. Der Brustkorb mit dem gelben Kreuz hebt und senkt sich.

Wie das Tape der Besucher erstrahlen auch über der B-Stage die beiden Diagonalen. Sahlo Folina. Mit der Dynamik des letzten Refrains gibt Tyler eine zuckende Tanzeinlage. Flackerndes Licht. Dann ertönt eine neue Melodie über die Lautsprecher. Durch meinem Kopf hallt ein tiefe Stimme, die fortlaufend drei Silben rhythmisch wiederholt. 

Pet Cheetah

Die Arena bebt. Das Duo erhebt sich. Und zwei gelb gekleidete Musiker verlassen mitten im Song die hintere Bühne. Begeistert drängt das Publikum zu der Seite, wo Josh Wegezoll in Form von Handschlägen verteilt. Ich vermag die Euphorie der Besucher an ihrer Stirn abzulesen. Und den Satz „ich werde mir nie wieder die Hände waschen.“ Zielstrebig erreicht die Band die Hauptbühne. Sofort setzt die, für einen kurzen Moment pausierte, Musik wieder ein.

Kleine Hocker bieten Fläche, um darauf positioniert auch vertikal das Bühnenbild auszufüllen. Nicht zu vergessen das Piano, auf welchem sich Tyler nun niederlässt. I sit here ‚til I find the problem. Das dauert nicht allzu lang. Und er ordnet an, die Füßen vom Boden zu lösen. Ein hüpfendes Publikum. Zu Nebelfontänen, die präzise das pet untermalen, trennt sich der Sänger selbst von der Plattform. Für einen halben Spagat in der Luft. Danach entfernt er sich in den Hintergrund.

Holding on to You

Neues Outfit. Ein schwarzes Shirt. Die bekannte rote Mütze. Trommelwirbel und Tyler verschwindet im Bühnengraben. Vor mir macht das Publikum einen Satz und staut sich auf engstem Raum zusammen, den nun ein Scheinwerfer erhellt. Der Sänger klettert auf die ausgestreckten Arme der ersten Reihen. Wird auf Händen getragen. I’ll be holding on to you. 

Ein wackeliger Untergrund scheint beim Singen kein Problem. Und eingezwängt zwischen aufgeregten Fans beobachte ich das Spektakel fasziniert. Aus der Nähe, nur einen guten Meter entfernt. Verse, die in den letzten Tagen auf Repeat aus meinen Kopfhörern flossen, sind noch nie auf kürzerer Distanz von der Band zu mir gelangt.

Für den Refrain begibt sich Tyler hinter die Tasten des Klaviers. Applaus für den Schlagzeuger, der frech die Zunge rausstreckt.

Das Duo als schwarze Schatten vor einer, von Lichtsternen durchbrochenen, Nebelwand. Eine zierliche Tonfolge begleitet die Worte entertain my faith. Mit jeder Repitition dieser Aufforderung wächst die Entrüstung. Drums verleihen Nachdruck und brechen nach Erreichen des Höhepunktes ab.

Beide Hauptpersonen des Abends stehen zum losgelösten Teil der Bridge nebeneinander. Auf dem Piano. Während Tyler seine Zeilen rappt, ist Josh bereit für den Rückwärtssalto. Bekannt als „Backflip vom Piano“. Das Publikum schreit. Und der Sänger schreit I’ll be holding on to you.

Ride

Nahtlos folgt der Übergang zum nächsten Song. Der dritte Radioerfolg. Laut mitsingen. Mitklatschen. Mitspringen. I’ve been thinking too much, help me. Melodien, die mich mitnehmen. Irgendwie ist die Zeit stehen geblieben, und doch schreiten die Ereignisse Schlag auf Schlag voran. Im einen Augenblick noch zu Ride getanzt. Im nächsten sind schon zwei Jahre vergangen. Aus rot wird gelb. Was bleibt sind die Skelett Hoodies.

Als twenty one pilots den Auftakt geben, Licht pulsiert im Rhythmus des Schlagzeugs. Farben kräuseln sich auf den Leinwänden. When everyone you thought you knew deserts your fight, I’ll go with you.

My Blood

Lieder sind nicht für jeden gleich. Und für mich hängt besonders an My Blood ein ganzes, emotionales Paket. Das sich mit Progression der Melodie allmählich entschnürt. Dessen Inhalt mich aufs Neue überwältigt. Ich bin mir sicher, dass mich bisher kein Song im Laufe eines Konzerts im Inneren so berührte, dass mir ungehalten und unaufhaltsam die scheiß Tränen flossen. Nur am Rande sehe ich Tyler verkleidet seinen Bass über die Bühne schwingen. Er greift zum Mikrophon. Und bittet die Besucher um Hilfe. 

Stay with me, no, you don’t need to run. Stay with me, my blood, you don’t need to run. Ein Chor von der linken Seite. Dann von der rechten Seite der Arena. Und alle gemeinsam. Tausende singen einen Refrain, die Atmosphäre ist unbeschreiblich. Ich versuche zwischen den Tränen mitzusingen. Das gelingt mir nur zum Teil.

So viele, verschiedenste Personen, die unter Dirigat zweier Freunde zu einer riesigen Gemeinschaft werden. Unbeschreiblich.

Keine Zeit, um zu verarbeiten. Im Call and Response Prinzip ensteht ein Dialog zwischen Sänger und Publikum. Aus yeah yeah yeahs und oh ohs. Abgetaucht in einer blau-grünen Lagune aus tropfenden Klängen. Tyler hockt sich vorn in der Mitte hin, beginnt zu singen. Ein Wechsel zwischen schnellen Strophen und Zurücklehnen im Refrain.

Morph

Für weitere yeahs gesellt sich der Sänger zum Schlagzeuger auf dessen Podest. Im Fokus der Scheinwerfer. Nicht lang, nach Anheben und Senken der Plattform wird die Musik ausgeblendet. Nur der reine Klang des Pianos, ein if I keep moving they won’t know von Tyler. Ein I’ll morph to someone else vom Publikum. What they throw at me’s too slow. I’ll morph to someone else, I’m just a ghost.

In Gedanken freue ich mich schon auf den Instrumentalteil, der das Stück zum Ende abrundet. Doch dann sehe ich ein Crewmitglied, das uns vom Bühnengraben aus ansieht. Beide Hände mit Handflächen nach oben hebt. Und im nächsten Moment dreht sich mir der Kopf, als ich die Hinweise entschlüssele. Nicht nur Josh verlässt die Bühne, gelbe Drumsticks entschlossen umfasst. Es wird ebenfalls ein Brett, auf dem Hocker und Schlagzeug montiert sind, in das Publikum gegeben.

Ich klammere den äußeren Rand der Druminsel fest. Auf der eine Hälfte meiner Lieblingsband nach lautem „Josh Dun“-Ruf aus dem Publikum zu einem Schlagzeugsolo ansetzt.

Absolut fasziniert blicke ich an der Basedrum vorbei, hinter der der Schlagzeuger sitzt. Hinter dem die Leinwand das Spektakel überträgt, von dem ich ein Teil bin. Und bei der all der Aufregung fällt es auch nicht auf, dass Tyler hinter seinem Piano hockt und sich, die Skimaske über den Kopf ziehend, auf das nächste Lied vorbereitet.

Car Radio

Sofort stimmen die Zuschauer in den schnellen Rap ein. Schlichte Begleitung. Die Lichtwürfel leuchten nur dezent weiß im Hintergrund auf. I liked it better when my car had sound. Darin sind sich alle hörbar einig. Peace will win and fear will lose. Die Wörter strömen nur so aus meinem Mund. Keine Zeit zum Luft holen. Wenn das der Endspurt ist, gebe ich mehr als alles. „Let’s go! Jump!“ lässt sich niemand zweimal sagen.

Die Nebelfontänen steigern die Dramaturgie. Die Menge singt ein ohhhohoh. Immer wieder. Bis Tyler seinen Weg von der Bühne, vorbei an der B-Stage zu einem kleinen, metallenen Turm gefunden hat. Er klettert das Gerüst hoch. Und breitet die Arme aus. Verneigt sich vor allen Seiten der Arena. Die Spannung ist zum Greifen nah. And now I just sit in silence. Ein Schrei aus der Seele. Der Sänger reißt sich zum zweiten Mal an diesem Abend die schwarze Maske vom Gesicht. Und der Beifall ebbt nicht ab.

Chlorine

Es wird dunkel. Doch das irritiert die Zuschauer nicht. Immer mehr stimmen in das ohhohoh von Car Radio zuvor ein. Und immer mehr zücken ihre Taschenlampen, um von sich aus die Venue zu erleuchten. Ein verzerrtes So where are you? It’s been a little while ertönt.

Ned tanzt im Hintergrund über die Leinwand. Davor das Duo, auf emporgehobenen Plattformen. Josh mit Anglerhut. Wieder fügen sich Musikvideo und Konzert zusammen. Can you build my house with pieces? I’m just a chemical. Diese Zeile leistet mir Gesellschaft bis ich am nächsten Tag überdreht und übermüdet zugleich ins Bett falle. Gemeinsam gesungen. Wiederkehrend aneinander gereiht. Meinetwegen hätte es ewig so fortlaufen können.

Leave The City

Doch das nächste Lied macht klar: They know that it’s almost over. Bei dieser Feststellung aus Leave The City überkommt mich eine Melancholie. Die herzergreifende Klavierbegleitung und Hoffnungsschimmer im Gesang. In time, I will leave the city. For now, I will stay alive. Gelber Nebel sammelt sich auf der Bühne. Umspielt Piano und Schlagzeug als stünden sie auf einer Wolke.

Aus dem Video auf der Leinwand wird ein Foto mit Zeichnungen. Skizzen. Rohversionen der Hintergründe, die während der Show erschienen sind. Bevor sie zu Schwarz verblenden. Ein Scheinwerfer ist auf Tyler gerichtet, der im Lichtkegel an seinem Keyboard steht. „You made it to the end.“

Das Ende eines unglaublichen Konzerts. Nicht nur dank der Band, die mit Kreativität und Herzblut aus einer Idee eine ganze Welt erschaffen hat. Sondern auch dank einer Crew, die diese Show rechtzeitig auf- und abbaut. Und mit der Ladung von über einem Dutzend LKW die Grundlage für so ein faszinierendes Erlebnis schafft. Nicht zu vergessen die Konzertbesucher, ohne welche diese Mühe irrelevant wäre.

Trees

Ohne Pause geht Tyler’s Rede in den Text von Trees über. I can feel your breath. I can feel my death. I want to know you. I want to see. I want to say hello. Das Publikum singt ein letztes Mal für diesen Abend im Chor, der nur heut, nur zu dieser Sekunde, und nie wieder so existieren wird. „Get your feet off the floor!“

Ein letztes Mal die Nebelfontänen, die im Rhythmus zu den hüpfenden Haarschöpfen explodieren.

Ausgelassenes la la lalalalala. Meine Freude ist an dem Punkt unermesslich. Dass das Ende naht, spielt keine Rolle. Als ich wieder ein Brett vor meinen Kopf gesetzt bekomme, ist das Konzert für mich komplett. Ich greife zu und spüre wie sich die Platte unter dem Gewicht von Josh bewegt. Mit zwei Schlägeln in der einen Hand kniet er darauf und lächelt ins Publikum.

Jemand streckt ihm seine Faust entgegen, worauf der Schlagzeuger mit einem fist bump antwortet. Ich strecke ihm ebenfalls meine Faust entgegen. Und bekomme den gleichen Gruß, bevor sich Josh abwendet, um unter gelbem Konfettiregen auf seine Trommel einzuschlagen. Genau wie Tyler, der synchron ausholt und die Zuschauer zu lauten hey-Rufen animiert. Ich kann gar nicht beschreiben, was in dem Moment bei mir abging. Meine Konzentration hat gerade so weit gereicht, keine gelben Papierschnipsel zu verschlucken und daran zu ersticken. Der Kopf dreht sich.

Ein Duo. Nach 21 Songs die Verbeugung vor gelbem Hintergrund. Mit Aufschrift „The Bandito Tour“.

„We are twenty one pilots. And so are you.“