Riesige Tourbusse. Drei, vier Stück. Sie reihen sich dort an der Straße. Wie all die warm angezogenen Leute, die sich langsam vorwärts schieben. Zwischen Gruenspan und Großer Freiheit 36 nähe der Reeperbahn. Ein Freitagabend, an dem sich die Konzertsäle füllen. Ich warte ebenfalls, die Bahn hat Verspätung.
Bei meinem Eintreffen am Gruenspan, schlängelten sich die Besucher*innen bereits bis um die Straßenecke. Von allen Neuankömmlingen mit schockiertem Gesichtsausdruck registriert, war dieses Phänomen bei ausverkauftem Haus jedoch absehbar. Besonders, da der Einlass gerade begann. Neugierig betrete ich zum ersten Mal den fünfzig Jahre alten Club. Beleuchtete Säulen und formschöne Stuckelemente. Ein Kontrast zur Musik der Bands, dessen Auftritte sie stimmungsvoll umrahmen.
Während die letzten Vorbereitungen getroffen, die letzten Wintermäntel an der Garderobe aufgegeben werden, spielt im Hintergrund Musik. Ausgewählte Titel als Hinweis darauf, dass es heut laut wird.
Rockig, auch punkig. In meiner Hosentasche steckt die Kapsel mit den Ohrstöpseln. Einsatzbereit. Und kaum habe ich diese Vermutung geäußert, setzt unvermittelt die Vorband mit ihrem ersten Song ein. Dröhnende Drums. Das Publikum beginnt zu klatschen. Ich sehe von alldem jedoch nichts, da ich auf halbem Wege zur Garderobe stecke. Und meine Ungeduld wächst.
Endlich frei von jeglichem Ballast, eile ich der Ansammlung vor der Bühne entgegen. Drücke mir beim Gehen den Gehörschutz ins Ohr. Irgendwo mittig bleibe ich stehen, überrascht von der guten Sicht. Überrollt von dem beißenden Geruch des Kunstnebels, dem mit Sicherheit kein Tutti Frutti Aroma beigemischt wurde. Überzeugt, dass dieser aber immerhin auf den Fotos der Band für eine atmosphärischen Ausstrahlung sorgt.
Den Abend des 18. Januars eröffnet Hot Milk.
Ein Quartett aus Manchester, das seinen Sound als Emo Powerpop beschreibt. Eine Stimmung breitet sich aus, die auch mich durch schmetternde Rhythmen und aufgebrachten Gesang an Teenie-Pop-Punk-Zeiten erinnert. Leider hält der Auftritt nur eine Viertelstunde an. Länger dauern die Umräumarbeiten, die getrost Zeit für ein oder zwei Gänge zur Bar bieten.
Doch dann. Das Licht wird gedimmt. Scheinwerfer auf die Bühne gerichtet. Und mit ausgestreckten Armen, die eigene Darbietung zelebrierend, betritt jedenfalls nicht You Me At Six die Bühne. Ein zweiter Supportact trägt den Namen Big Spring. Ebenfalls ein Vierergespann aus England.
Mit grollender Gitarre und Bass, einem konsistent dumpf-donnernden Schlagzeug.
Der spontane Vergleich mit einem Baustellenalltag bringt mich zum Schmunzeln. Ein Sound aus schweren Maschinen und gelegentlichen Warnsignalen, die sich als einprägsam-leuchtende Gitarrenriffs abheben. Inmitten steht der Sänger in rotem Jeanshemd, noch zu Anfang die dicke Teddyfelljacke übergeworfen.
Nach Abklatschen der ersten Reihe und einigen Songs mehr als ihre Vorgänger, verlassen Big Spring das Zentrum des Geschehens. Erneut in langwierigem Umbau versinkend. Zeit, für ein oder zwei Gänge zur Toilette, die im Anschluss an die vorherigen Getränkeladungen nun nötig sind. Um sich mental und physisch bereitzumachen.
Es bestehen keine Zweifel, dass der Hauptact als nächstes die Bühne einnimmt. Sich vor seinem, auf eine riesige Stoffbahn gedruckten, Cover zum Album VI platziert.
Tatsächlich verliert die Beleuchtung des Saals an Intensität. Die Hintergrundmusik, bei der gerade Rockstar von Post Malone läuft, bricht abrupt ab. Und bekannte Gestalten treten in das blau zuckende Scheinwerferlicht. Ein Jubeln, bei den Vorbands noch zurückhaltend, jetzt überschwänglich und erleichtert. Mit Fast Forward beginnt nicht allein das aktuelle Album der fünf Engländer, sondern auch ihr mitreißender Auftritt an diesem Abend.
Frontmann Josh in weißer Jeansjacke, zurückhaltendes Gemüt. Und Gesang, der sich gegensätzlich dazu einem dunklen und rauen Spektrum bedient. Der die Enden mancher Verse und Songs Ton an Ton reiben lässt.
Nicht einzig ungeölter Rock, ebenso poppig oder sich besinnend zurücknehmen. Das musikalische Repertoire ist individuell und abwechslungsreich. Wie schon bei Tänzen in der Renaissance bevorzugt, folgt auf ein schnelles ein langsames Stück. Hände in die Luft und kollektives Auf- und Abspringen zu Night People. Oder ein von wehenden Taschenlampen erhellter Saal bei Take on the World.
Meine Lieblingslieder sind die zwielichtigeren Predictable und I O U. Der volle Klang versetzt zu schwülen Sommernächten zurück. Auch im Gruenspan sind die Temperaturen ähnlich, immer mal wieder weht mir ein Schwall heißer, verbrauchter Luft ins Gesicht.
Ich hatte beim ganzen Erste-Reihe-Fangirling schon vergessen, wie es mitten in der Menge ist. Schwitziger. Aber erstaunlicherweise entspannt, trotz rockig-ausgelassener Stimmung. Erst bei der Ankündigung des letzten Songs bildet sich neben mir ein Kreis, den ich im Folgenden zu Füllen helfe.
Um mich herum scheinen alle glücklich zu sein mit jedem weiteren Lied, das ertönt.
Diese klingen umso besser, je mehr Alkohol im Blut ist. Das bestätigt die Band, denn sie habe es bereits selbst ausprobiert. Während der Sänger seinen eigenen Becher zum Prost erhebt, stellt er also den Moment als passend heraus, sich erneut mit Nachschub von Bar zu versorgen. Dem kommt, wenn überhaupt, nur ein minimaler Teil des Publikums nach. Zu sehr mit tanzen und mitsingen beschäftigt, was die Band jedoch genauso freut.
Aufgelockert geht es in den Endspurt des Konzerts, den Josh den Besucher*innen ganz instruktiv vorwegnimmt. Er beschreibt den weiteren Verlauf wie folgt: Gleich wird die Band den letzten Song ankündigen und danach hinter die Bühne treten. Wahrscheinlich nur zwei, drei Meter. Das Ego erfreut sich an dem ausverkauften Saal, der wiederholend „You! Me! At Six!“ ruft.
Und nach einer kurzen Weile erscheinen die Musiker erneut im Scheinwerferlicht. Für weitere vier, fünf Songs.
Und genau so findet es dann auch statt. Mit Ausnahme auf das very end. Denn dass sich der Sänger motiviert für einen Schwimmzug in den Zuschauerwellen vorwärts ins Getümmel stürzt, hat niemand hinweisend angemerkt. Dieses Finale ist der krönende Abschluss und wird von lautstarkem Beifall begleitet. Auf der Empore blickt ein begeistertes Publikum auf das Szenario hinab. Wie auch die Mitglieder beider Supportacts. Sich vielleicht heimlich vorstellend, an gleicher Stelle zu sein. Meine Gedanken jedenfalls, hat es schon gestreift.