ALARMBEREITSCHAFT UND GEMEINSCHAFT

Es ist Dienstag, der 15. Januar. Wetter wie im Herbst. Und während sich meine Mitstudierenden in den Hörsaal begeben, steige ich in den Zug nach Hamburg. Die Abendvorlesung wird heut einem ersehnten Konzert weichen müssen. Noch im Schummerlicht des Wagens 4 tausche ich Pflichtlektüre gegen pinken Lidschatten. Passend zu den Socken. Nur schwarze Herzen rechts und links auf den Wangen fehlen, um einen Look zu komplettieren, der sich bei den Wartenden vorm Uebel & Gefährlich durchgesetzt zu haben scheint.

20:10 Uhr, ich biege auf das Gelände der Venue ein. Zehn Minuten nach offiziellem Einlassbeginn und erblicke eine erwartungsvolle Menschenmasse.

Glücklicherweise brauche ich mich jedoch nicht damit auseinanderzusetzen, wo in der schier endlosen Schlange die Einreihung der Spätankömmlinge stattfindet. Zwischen der Suche nach dem Gästelisten-Check-In und einer regen Faszination über die so zahlreich erschienenen Besucher*innen fallen Feuerwehr und Polizei gar nicht auf. Sollte mir das etwa suspekt vorkommen? Vielleicht wäre ich dann im Folgenden nicht so überrascht gewesen.

Die Pforten werden geöffnet. Ich schlüpfe hindurch und beginne den ersten Teil meines abendlichen Workouts mit motiviertem Treppenlaufen. Lasse die Wartenden hinter mir. Ein gestempeltes Handgelenk verschafft Zutritt zum Ballsaal. Und die Bühne rückt in mein Sichtfeld.

An die hundert jungen Fans drängen sich bereits davor. Teilweise seit vier Uhr morgens ausharrend, als erster einen Blick auf das Idol zu erhaschen.

Unwillkürlich muss ich dabei an das Berlin-Konzert denken, das Yungblud vor fast genau einem Jahr spielte. Nur auf zwei Meter Abstand traute sich damals die beschauliche Gruppe an den Bühnenrand. Und keiner wusste so recht, was ihm als nächstes blüht.

Heut scheint das anders. Beim Betrachten des, sich mit mehr und mehr enthusiastischen Personen füllenden, Saals werde ich aufgeregt. Ich überfliege die neuen Gesichter. Bis ich bei einem Typen am Mischpult hängen bleibe, der sich leicht unangenehm berührt ein Mikrophon vor die Nase hält. Verkündet eine Nachricht, die stutzen lässt, gefolgt vom Publikum, das den Raum verlässt.

Feueralarm

Ein unwillkommener Anlass, die erklommenen Stufen zum vierten Stock noch vor Anfang des Konzerts wieder hinabzusteigen. Unbehelligt im Regen zu stehen. Und in meinen Gedanken die Entscheidung zu feiern, heut kein Geld für die Garderobe gehabt zu haben. Gemurmel, Aufregung, wieder Feuerwehrmänner. Nasse Haare, Zweifel und Hunger auf heißen Kartoffelstampf. Auch all das geht vorüber.

Niemand weiß so recht den Grund. Doch solange mit dieser Evakuierung eine erneute Platzvergabe zum eigenen Vorteil verbunden ist, scheint es manche weniger zu stören als andere. Ich mochte meine alte Position. Die unterschätzte, balkonartige Plattform links vor der Bühne. Und ersterem Faktor verdanke ich die Möglichkeit, eben dort wieder Stellung zu nehmen. Nach einer halben Stunde. Unter großer Erleichterung der durchnässten Besucher, die wieder ein Dach über dem Kopf bekamen.

Als wäre nichts gewesen betritt Carlie Hanson die Bühne. Scheinwerferlicht und Aufmerksamkeit richten sich auf die 17-jährige.

Zwei Bandkollegen an Drums und Gitarre, die Basecaps werden verkehrt herum getragen. Ein insgesamt familiärer Eindruck entsteht, Erinnerungen werden geweckt. Dabei ist es für mich Premiere. Und auch für die aus Wisconsin stammende Sängerin, die das erste Mal ihre Songs in Europa präsentiert.

Der Auftritt lässig, ähnlich dem Baggy Pants, Bandshirt kombinierenden Outfit. Der Style ihrer Musik dazu im überraschenden Kontrast, poppig und vor Farben sprühend. Zu Toxins singe ich mit, obwohl ich das Lied nicht kenne. Aufgewärmt und voll Vorfreude, die mein leises Bedauern zu fehlender Individualität des Supportacts unterdrückt.

Jung und voller Energie leitet Carlie Hanson ein Programm ein, das im kommenden Punkt meinen Wunsch nach Unverwechselbarkeit erfüllt.

22:00 Uhr, eine Umbaupause, die nicht wie eine Unterbrechung wirkt. Viel mehr eine erste Enthüllung, was der weitere Verlauf des Abends bereithält. Ein Schellenring mit pinkem Anstrich. Gitarren, technisches Zubehör, Requisiten durch Kleckse verziert.

Ein Fernsehgerät, das dem Publikum entgegenlächelt. Dann zu rauschen beginnt. Das Licht geht aus. Fokus auf verzerrte Streifen, die über den Bildschirm der Retro-Röhre zucken. Im Hintergrund eine Stimme. Und der ausverkaufte Saal bebt vor Spannung. Ich kann nicht einmal mehr sagen, was uns dort über die Lautsprecher verkündet wurde.

Alle Arme recken sich gen Decke, unter der sich die stickige Luft anstaut.

Ein weiterer Vorteil meines gewählten Platzes ist auch, dass ich die gesamte Menschenmasse überblicken kann. Das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, ohne die gesamte Bewegungsfreiheit aufzugeben. Ein jubelnder Empfang für das Trio bestehend aus Michael am Schlagzeug, Adam an der Gitarre und Dominic aka Yungblud. Viele Beine beginnen zu hüpfen. Auf und ab. Dem Sänger auf der Bühne nachempfunden, dessen Bewegungsdrang ein unerschöpfliches Spektrum zu umfassen scheint.

Kein Anlass ist gelegener, um richtig abzudrehen. Abzugehen. In der Explosion aus extravertierten Songs. Gestörte Bedürfnisse, Rebellion, entrüstete Gesellschaftskritik beinhaltend. Jeder einzelne bekommt eine Stimme und singt lauter mit als beim Lied davor.

Yungblud als Dirigent im rosafarbenen Nebel

Heut ohne Anstand. Kein Stillstand, steter Antrieb. Sonst dreht sich die CD im Player. Jetzt dreht sich der Kopf. Wie eine Fahrt im Karussell mit blinkenden Lichtern, schriller Geräuschkulisse und Bewunderung für die chaotische Ausgelassenheit.

Ausnahmslos erreicht bereits die Ankündigung der Titel Begeisterung. Und ich bin noch nie so viel bei einem Konzert gesprungen. 21st Century Liabilty und Medication. Aus dem Augenwinkel den Moshpit wahrnehmend. Psychotic Kids und Anarchist.

Der Publikumschor kennt alle Wörter auswendig. I Love You, Will You Marry Me und Polygraph Eyes.

Handytaschenlampen mit pinkem Licht gegen die dunklen Gedanken. Kill Somebody. Und im Kopf ein Neonschriftzug mit California, während ich mir das Fernweh aus der Seele schreie. Der vom Regen durchweichte Haarschopf, wieder getrocknet und nun schweißnass. Vor Anstrengung verlaufene Schminke.

Und auch Klassiker Tin Pan Boy und King Charles fehlen nicht. Doch ich erwarte noch etwas anderes. Ein Griff zu besagtem Schellenring. Eine Hymne. Ein Ohhhhhhhohohh. Und da ist sie, die Euphorie. Ein Song und meine Motivation. Loner. Ein Jahr darauf gewartet. Ein Grinsen über beide Ohren. Wie das von Yungblud. Vielleicht nicht ganz so wahnsinnig.

Das pinke Scheinwerferlicht wird gedimmt.

Publikum außer Atem. Beifall. Zu. Ga. Be. Berauschte Blicke werden ausgetauscht. Drei Lieder fehlen noch im Set. Unruhe und dann ein Tosen. Die For The Hype, ein Lolly für Polly. Doctor Doctor und Machine Gun. Ein letztes Mal kommt das Dreiergespann aus England auf die Bühne. Ich nehme mein Fünkchen Restenergie. Und singe, springe zu den Lieblingsliedern.