GEMISCHTE GEFÜHLE

Manchmal glaube ich, die Menschen einschätzen zu können. Anhand ihrer Frisuren oder dem T-Shirt, das sie tragen. Indem ich beobachte, wie sie sich verhalten, wie ihr Aussehen Eindrücke kommuniziert, die ich mit einem bekannten Schema verknüpfe. Was sie wohl für Musik hören? Sind sie auf dem Weg zum gleichen Konzert wie ich? 

Genau das habe ich mich auch am 18. Oktober gefragt, als ich Station Reeperbahn aus der S-Bahn steige und mit einer mäßigen Traube an Individuen den Ausgang vor dem Molotow ansteuere. Doch entgegen meiner Erwartungen bleibe ich dabei die einzige, die die Türen des Hamburger Clubs durchschreitet.

Alle erwarteten Gäste stehen schon versammelt vor der Bühne, auf der auch sogleich der Supportact den ersten Ton anschlägt.

Eine undurchdringbare Gitarrenfront baut sich vor der ersten Reihe auf und lässt die Saiten schwingen. Und auch das Publikum. Was für mich einen herbeigesehnten Nutzen hat. Denn bislang verweilte ich halb im Eingang des Clubs, der gleich neben der Bühne und dementsprechend vollgequetscht mit Spätankömmlingen und Superfans ist. 

Einen Weg durch die Menge gebahnt, bleibe ich im Windschatten eines Zweimetertypen stehen. Bewegungsfreiheit geht hier vor freier Sicht. Und im Getummel habe ich noch nicht einmal geschafft meine Jacke abzulegen. Das wird auch vorerst nicht nötig sein. Kurz ist das Set von Easy Shapes. So kurz, dass die Wärme es nicht schafft, die vielen Schichten Kleidung zu durchdringen.

Das hamburger Quartett sprüht vor Motivation bei der Darbietung einer handvoll Songs.

Auch ich bin motiviert für diesen Abend. Ein bisschen Kopfnicken und zunächst seichtes links-rechts-links-links Gestampfe zu ausgelassenem Inide-Gitarren-Rock reicht jedoch nicht, um mich abzuholen. Vom Schreibtisch, wo ich gedanklich noch sitze. Dabei wäre ich gern schon von Sekunde eins voll und ganz im verschwitzen Molotow angekommen.

Es lag vielleicht an meinem überstürzten Eintreffen. Denn langsam werde ich mir gänzlich bewusst, wo ich mich befinde. Die Luft stickig. Die Jacke nun doch um die Hüften geknotet, den Versuch eines Durchkommens zur Garderobe bedacht unterlassen. Und es beginnt ein Räumen auf der kleinen Bühne, dass die Zuschauer*innen gespannt beobachten, einen ersten Blick auf die folgende Lieblingsband zu erhaschen. Doch zwischen den beschäftigten Gestalten, die Instrumente in Startposition bringen, bleibt dieser Blick aus.

Aufgespart für einen großen Entrance. In einer Nebelwolke, geheimnisvoll erstrahlt durch das Zucken stroboskopischer Lichtreflexe.

Begleitet von einem, den Raum erfüllenden, sirrenden Klang treten vier Gestalten in den Schatten der Scheinwerfer. Lassen sich vom Dunkel umhüllen. Ein Bild dem Albumcover ihres Debüts gleichend, wo nur ein roter Schriftzug leuchtet wie Neonröhrenschein. Präzise auf den Takt wechseln die Farben des Lichts zu dem sonst zurückhaltenden Auftritt Pale Waves‘. Und eine Zeit über ist es das einzige, was meine Sicht erreicht. Rot auf Blau auf Rot auf Blau auf Rot.

Neben all den Elementen, die sich in ihrer Nichtfarbigkeit ergänzen. Melodien, die perlend von Saiten und der Zunge Sängerin Heather’s kullern. Sich um die eigene Achse drehen und dabei buntes Scheinwerferlicht reflektieren. Ein poliertes Glied der gleichförmig anmutenden Kette, die man sich zu einer Girls-Night-Out um den Hals schlingt. Accessoire für eine Nacht im schillernden Gewand.

Ausgelassenes Tanzen und verdrängte Frust über komplizierte Beziehungen. Gemischte Gefühle. Auch trübe Melancholie.

Getanzt wurde an diesem Abend. Und gesungen. Textsicher die emotionalen Popsongs, die My Mind Makes Noises und eine erste EP des englischen Quartetts zu bieten haben. Auch hier bin ich im Zwiespalt zwischen ansteckender Freude über dieses Konzert und wehmütigen Erinnerungen, die im Ausdruck des Gesangs mitschwingen. Ersteres überwiegt. Bei einem Blick in all die zufriedenen Gesichter, die dem Geschehen auf der Bühne und besonders den Bewegungen der beiden Schöpfe von Heather und Schlagzeugerin Ciara folgen. 

Und so endet mein Donnerstag. Mit Kontrast, viel schwarz, einem Lächeln und einfarbig bunten Melodien. Auf dem Weg zur Bahn fragen zwei Mädchen, ob ich ein Foto von ihnen machen kann. „I don’t wanna be just your friend“ leise vor sich hin summend. Fröhlich über entrüsteten Text.