KINO MIT MUTTI UND DER LIEBLINGSBAND

Ich sitze aufrecht im Schneidersitz auf der grünen Couch meiner Eltern, die Fernbedienung fest umklammert. Während der Bildschirm aufflimmert, beugt sich meine Mutter über die Rückenlehne, um das dahinter verbaute Soundsystem einzuschalten. Und schon ballert die süße Melodie von Gamesofluck aus den Boxen. Ein Video von Parcels im Funkhaus Berlin leuchtet im Fernseher. Meine Arme zeichnen Wellen in die Luft und der Songtext liegt stumm auf meinen Lippen. Außer beim „ha! uhh“. Das lasse ich mir nicht nehmen.

Mutti liegt neben mir und schaut gebannt wie bei einem Tatort zu. Als die fünf Australier in ein ausgedehntes Instrumental-Intermezzo abschweifen, frage ich mit einem Grinsen in den Raum: „Und, wer ist dein Lieblingsparcel?“. Die Augen weiterhin auf das Video geheftet, antwortet meine Mutter: „Der blonde da. Noah!“ Ich quietsche begeistert über ihr Insiderwissen. Dafür ernten wir nur einen verständnislosen Blick von meinem Vater, der das Geschehen vom Sessel aus beobachtet. „Ich habe die auch schon mal in echt gesehen“, sagt meine Mutter stolz zu ihrem Mann, den Finger auf die Band im Video gerichtet.

„Du hast die schon gesehen? Wann denn das?“

Es ist Anfang Oktober. Ich habe gerade mein Studium in Berlin angefangen. Da ich in der Hauptstadt noch auf Wohnungssuche bin, fand ich übergangsweise Unterschlupf bei meinen Eltern. Das bedeutete zwar eine stundenlange Zugfahrt jeden Tag, doch meine Euphorie für die neue Stadt bremste das nicht. Berlin ist nämlich voll von bisher unergriffenen Möglichkeiten. Konzerte, neue Kontakte. Und unverhoffte Kinoabende?

Ich erinnere mich daran, wie ich wieder einmal viel zu früh in unserem Seminarraum saß. In der ersten Uni-Woche passiert das noch. Vielleicht ein, zwei weitere übermotivierte Studierende haben ebenfalls in den Reihen Platz genommen. Zum Glück ist das Gebäude hier mit dem besten WLAN ausgestattet und so krame ich in meiner Jackentasche nach dem Handy. Wenig später öffnet sich mein Mail-Postfach (mittlerweile bekomme ich mehr E-Mails als Nachrichten, also ist der Check vom Postfach eingefleischter als ein Blick auf Whatsapp).

Und mich sollte tatsächlich eine ungelesene Mail erwarten, nachdem ich vorsorglich den Refresh-Button gedrückt habe. Bei dem Absender stockt mir kurz der Atem. Ich blicke mich ganz begeistert im Raum um, aber niemand nahm von mir Notiz. Komisch, dabei drehten meine Gedanken gerade einen Stepptanz unter dem wildesten Feuerwerk, aus irgendeiner Ecke drang lauter Hallelujah-Chorgesang. Denn diese E-Mail wurde von den Parcels versandt. Oder genauer: vom Parcels Pop Shop.

Das Parcels Pop Shop Debüt Event

Ich weiß nicht, mit wie großen Fans ich es hier zu tun habe, die diesen Text lesen. Daher eine kurze Erklärung: Der Pop Shop ist eine Art Fanclub. Du meldest dich an und bekommst einen exklusiven Newsletter, manchmal spezielle Merchdrops oder wirst vor allen anderen in nächste Band-Aktionen eingeweiht. Und für die ersten einhundert Personen, die eine Anmeldung einreichten, wird der Titel „Founding Members“ gehalten. Natürlich habe ich alles daran gesetzt, auch zu diesen Gründungsmitgliedern zu zählen, was einfacher gesagt als getan war. In ein paar Sekunden sind die hundert Plätze bereits besetzt. Ich war dreiundsechzigste. Das weiß ich so genau, weil ich meine Gründungsmitgliederkarte mit der Nummer 63 stolz und zu jeder Zeit in meinem Portemonnaie bei mir trage.

Doch zurück zum elektronischen Postfach. Denn was ich dort bekommen hatte, war keine einfache Mail. Es war eine Einladung. Zu einem Kinoabend mit der Band. Ich bestellte direkt zwei Karten für den Mittwoch in der nächsten Woche. Und ging in Gedanken meinen Kleiderschrank durch. Was war denn bitte mit dem Dresscode „comfortable but not too comfortable“ gemeint?

Ich entschied mich für eine ausgewaschene Jeans in Kombination mit einem braunen Pulli, der mir fast bis zu den Knien hängt. Um den Hals band ich mir in Stewardess Manier ein cremefarbenes Halstuch. Das Ergebnis einer langen Woche, in der ich mir nicht nur zum Outfit Gedanken machte, sondern auch nach Hinweisen Ausschau hielt, welchen Film die Jungs wohl ausgewählt haben. Ich weiß, dass sie gern Horrorfilme sehen. Und da meine Beziehung mit diesem Genre eher problematisch ist, wollte ich mich innerlich wenigstens darauf einstellen.

Das Rätsel um die Filmauswahl sollte am Mittwoch des Kinoabends mein kleineres Problem bleiben. Ich bin morgens mit einer anbahnende Erkältung aufgestanden und musste feststellen, dass mir neben der nötigen Abwehrkräfte auch eine Begleitung für den Abend fehlt. Einige Stunden später sitze ich mit meiner Thermoskanne in der gelben U-Bahn, die ruckelnd Richtung Hermannstraße fährt. Mir gegenüber meine Mutti. Ich hatte ganz vergessen, sie über die Kleiderordnung zu informieren.

Es ist schon dunkel, als wir am Hermannplatz ankommen. Am Ausgang der Station zuckt blaues Licht über den Gehweg. Sanitäter kümmern sich gerade um einen Besoffenen, der nicht mehr laufen kann. Und meine Mutti sieht mich geschockt an, als wir über die Ampel auf eine dunkle Straßenseite wechseln. Da wir viel zu früh dran sind, zögern wir die eigentlichen acht Minuten Fußweg zum Kino auf das Doppelte hinaus. Ein paar Häuser weiter erhellt ein Späti-Schaufenster den Bürgersteig. Direkt daneben prangt über einem Eingang die Schiebetafel des Neuen Off, deren Buchstaben „Parcels Pop Shop“ formen.

Immer noch überpünktlich stellen wir uns vor die Schaukästen, die sonst das Kinoprogramm anzeigen. Heute hängen dort Plakate vom Pop Shop. Eine kleine Gruppe, die sich später ebenfalls den Parcels Fans anschließt, sitzt vor dem Späti auf Holzbänken. Ich trete von einem Bein auf das andere und werde zunehmend nervöser. Und weil ich so aufgeregt bin, wird meine Mutti auch aufgeregt. Ich versuche mir schon ein paar Sätze zurechtzulegen, die ich den Jungs dann sagen werde, wenn noch Zeit für ein kleines Gespräch bleibt. Doch immer, wenn ich eine Formulierung gefunden habe, verwerfe ich sie wieder.

„Aber ich will auf keinen Fall mit denen reden!“, wirft Mutti ein. Ich unterbreche mein Selbstgespräch und bei dem Blick in ihr ernstes Gesicht, muss ich lachen: „Sie werden dich schon nichts fragen, wenn du nicht zu ihnen hingehst.“ Darauf bekomme ich nur ein „Hoffentlich! Ich versteh‘ doch nicht mal, was die von mir wollen“ zurück. Wie gut, dass wir grad drauf und dran sind, in einen englischen Film zu gehen.

Mit Popcorn und Apfelschorle

Es sammeln sich immer mehr Grüppchen vor dem Eingang des Kinos. Doch nicht zu viele. Insgesamt folgten nicht mehr als fünfzig Leute der Einladung der Parcels. Apropos. In diesem Moment hält neben meiner Mutti und mir ein Taxibus am Straßenrand. Hinten geht die Schiebetür auf und es steigt ein Bandmitglied nach dem anderen aus. Bei Noah hat auch meine Mutti erkannt, um wen es sich handelt: „Guck mal, die Parcels!“ Als dann auch Jules geduckt aus dem Auto steigt, nickt Mutti wissend mit dem Kopf. Durch den Schnurrbart war auch er eindeutig zu identifizieren.

Wer ebenfalls einen Schnauzer trug war Jean Raclet, der nach dem Eintreffen der fünf Australier überall herumsprang und Fotos schoss. Vom Kino-Eingang. Dem schwarzweiß gefliesten Boden im Foyer. Ein Tisch mit gefüllten Popcorn-Tüten, in denen überall ein Sticker steckte. Ich holte meiner Mutti und mir eine Apfelschorle mit den Getränkemarken, die jede*r Besucher*in bekam. Langsam füllte sich der kleine Vorraum und auch auf den Tischen, die dort standen, waren liebevoll einige der roten Sticker drapiert. An den Wänden hingen weitere Parcels Plakate.

Die Atmosphäre war sehr entspannt. Alle hatte ein Getränk in der Hand und hier und da sah man Jules‘ Jacke zwischen den Leuten aufblitzen. Oder den braunen Haarschopf von Patrick, der sich mit den Gästen unterhielt. Meine Mutti und ich beobachteten die Szenerie vor uns und überlegten, ob ich mir nachher noch eines dieser neuen Pop Shop T-Shirts kaufen sollte. Obwohl ich vermutlich schon mehr Parcels Merch im Schrank habe, als normale Shirts. Dieser Gedankengang wird von einem Klingeln unterbrochen. Das Signal, mit dem sich alle in den Kinosaal begeben.

Und meine Güte, war das ein gemütlicher Saal! Die Sitze und der Vorhang waren in einen türkis-blauen Farbton getaucht, während die Wände mit weißem Stoff verkleidet sind. Wir lassen uns in einer der hinteren Reihen fallen und einige Besucher*innen testen begeistert die verstellbaren Lehnen der Sitze. Die Tüte mit dem Popcorn auf dem Schoß warten wir, bis das Licht gedimmt wird. Weiter vorn sind die Köpfe der Band auszumachen und direkt vor der Leinwand steht Jean Raclet für ein Gruppenfoto. Dann wird es dunkel.

Melancholia von Lars von Trier

Der Film startete mit sehr dramatischen Szenen, die bereits zu dem Ende einen Rahmen spannten. Unterlegt mit noch aufwühlenderer Musik. Ein fremder Planet kommt der Erde gefährlich nah und markiert den Weltuntergang. Zwei Schwestern sind die Hauptfiguren in diesem Schauspiel, das sehr seltsam aber gleichzeitig fesselnd war. Es gab keine Hintergrundmusik außer diesen einen furchteinflößenden Akkordaufbau, der immer in Verbindung mit dem einrasenden Planeten aufkam. Erst still und langsam, dann verzerrt er sich, so dass mir schon ganz schlecht wurde von dieser Wirkung.

Ich sehe zu meiner Mutti rüber, die nicht ganz so begeistert zu sein scheint. Ihr war ebenfalls schlecht. Vielleicht lag das auch an dem Popcorn. Immerhin hatte ich ja noch meine Thermoskanne, von dessen Inhalt ich einen Schluck nahm. Da traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz: Wagner. Der Akkord ist aus Wagners Oper Tristan und Isolde. Endlich hat sich die Vorlesung in Musikgeschichte mal ausgezahlt. Dann kann ich mir den identifizierten und sogenannten „Tristan-Akkord“ nun nach Belieben zuhause anhören.

Etwas erleichtert bin ich doch, als der Film nach über zwei Stunden endlich vorbei ist. Benommen trotten wir in den Vorraum, wo zwei Personen, die vorher den Einlass kontrolliert haben, jetzt Parcels T-Shirts verkaufen. Viele der Gäste haben sich vor die Tür gestellt, um frische Luft zu schnappen oder eine zu rauchen. Neben ihnen mache ich auch Toto, Louie und Patrick aus. Noah und Jules wuselten hingegen noch im Foyer umher. Ich war plötzlich ganz unsicher, wen ich nun ansprechen sollte.

Ich war schon kurz davor, ohne ein Wort zu gehen. Auch Mutti drängelte bereits, da ihr wirklich schlecht zu sein schien. Also trat ich dicht von ihr gefolgt aus dem Gebäude. Und lief dabei direkt auf Louie zu. Das hielt mich zum Glück davon ab, unbemerkt zu verschwinden und so trat ich zu ihm, um mich für den Abend zu bedanken. Louie lächelte mich schon an, bevor ich ihn erreicht hatte und ich merkte nur noch, wie meine Mutti einfach ohne zu zucken an mir vorbei lief, als ich vor dem Keyboarder Halt mache.

Noch bevor ich ein Wort sagen konnte, begrüßte mich Louie. „Hey! We talked on skype didn’t we? You were the one with the little small dog!“ Ich erinnere mich zurück an den Tag, als Patrick und Louie für den Parcels Podcast einige ihrer hundert Founding Members per Skype interviewten. Damals wohnte ich noch bei meiner Schwester in Hamburg und war unbeschreiblich aufgeregt, als ich in diesen Videoanruf schaltete. Wie zu erwarten, brachte das all meine Englischkenntnisse durcheinander und bei der Frage, was Tyson denn für eine Rasse sei, meinte ich sehr professionell: „a little small dog“.

Ich war peinlich berührt, aber gleichzeitig beeindruckt, dass er sich mein Gesicht von dem Telefonat vor Monaten gemerkt hat. Mittlerweile ist auch Patrick zu uns gestoßen. Die beiden erkundigten sich, wie es Tyson geht und Louie fragt, ob ich denn extra aus Hamburg angereist bin. Nachdem wir ein bisschen gequatscht haben, verabschiedete ich mich. Und machte mich auf die Suche nach meiner Mutti, die dem Gespräch gekonnt ausgewichen ist (und der Film war zum Glück mit Untertiteln).