Es ist irgendwann gegen Mitternacht. Der spärlich beleuchtete Weg vor mir wirkt nicht sehr einladend. Nur hier und da reiht sich ein orangefarbener Lichtkegel zwischen die Bäume am Straßenrand. Nachts scheint diese Strecke nur wenig befahren zu sein. Und doch nähert sich genau in diesem Moment ein Auto. Ich höre wie es langsamer wird. Neben mir dann das Geräusch der automatischen Fensterscheibe. Angespannt laufe ich weiter, als eine Stimme an mein Ohr dringt: “ ‚Tschuldigung. Wo geht’s zu McDonalds?“
Ich merke, dass ich die Luft angehalten habe, als mir ein atemloses Lachen entweicht. Eine Gruppe Jugendlicher, die genauso harmlos ist wie die Reihenhäuser mit Terrassentür zum Vorgarten, wo sich nachts um halb zwölf die TV-Quizshow im Fensterglas spiegelt, blickt mir ahnungslos entgegen. Leider kann ich ihnen nicht helfen. Meine Kenntnis reicht nur bis zu dem Thai-Laden am Bahnhof. Und der hat gerade Sommerpause.
Enttäuscht kurbeln sie die Scheibe wieder hoch und es wird wild auf dem Handy herumgetippt. Ein kleiner werdender Lichtpunkt, der im Dunkel verschwindet. Ich setze meinen Weg zur Jugendherberge fort. Nur drei, vier der etlichen Fenster in der Fassade des komischen, langgezogenen Klotzes sind noch erleuchtet. Ich löse meinen Schlüssel von dem Karabiner an meiner Gürtelschlaufe und schließe die gläserne Eingangstür auf. Mein Zimmer ist im zweiten Stock.
Außer einer handvoll Gäste scheint die Herberge nicht ausgebucht zu sein. Die meisten davon sind mit dem gleichen Zug wie ich gekommen. Das habe ich schon bei der Fahrt gemerkt. An Ramones-Fanshirts oder den Semestertickets der Bremer Uni. Diese Leute reisen nicht einfach so nach Meppen. Die haben ein Ziel. Und zwar das gleiche wie ich. Das Kleinstadtfestival. Von dort komme ich gerade und lasse mich nun müde auf eines der vier freien Betten fallen.
Irgendwie schäle ich mich noch aus meiner kurzen Hose und dem blauen Top. Und bemerke dabei, dass ich Sonnenbrand an den Waden habe. Der kommt garantiert vom langen Anstehen an der Pommesbude. Die Schlange führte einmal quer über das Gelände und unter der prallen Sonne zeichnet sich der Schweiß auf den Gesichtern der Wartenden ab. Im Hintergrund animiert irgendein Rapper die noch spärlich versammelte Menge vor der Bühne zum Mitklatschen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schaufele ich endlich die viel zu salzigen Fritten in mich rein. Deswegen und aufgrund der Hitze an diesem außerordentlich schönen Juli-Samstag war mein nächster Stop der weiße Getränkewagen links von der Bühne. Ungeduldig versuche ich mir am Tresen einen Platz zwischen all den Bechertürme haltenden Mittvierzigern zu ergattern. Und siehe da, hier betrug die Wartezeit nur wenige Minuten, als sich ein netter Typ nach meinem Getränkewunsch erkundigt.
„Ein Wasser bitte.“ „Ein Wasser?!“, fragt er ungläubig und etwas verwirrt nach. Da bricht eine junge, braunhaarige Frau hinter mir in schallendes Gelächter aus: „hahahaha, DER war GUT!“. Sie knallt zwei dieser Papphalter auf die Theke, in denen jeweils sechs leere Becher stecken. „Ich hätt‘ gern nochmal zwölf Bier.“ Schmunzelnd nehme ich mein Wasser entgegen und mache ein paar Schritte auf die Bühne zu.
Bald ist es so weit, dass mein Grund für diesen spontanen Ausflug das Rampenlicht betritt. Kurz denke ich an unseren Hund, den ich kurzfristig zur Nachbarin abschieben musste. Und danke meinem Gedächtnis, dass es in der Eile weder das Festivalticket, noch die Zimmerreservierung für die Herberge vergessen hatte. Einzig einen Stadtplan hatte ich nicht zur Hand, genauso wenig wie ausreichendes Datenvolumen auf dem Handy. Doch wenn ich ehrlich bin, irrt man nicht allzu lang in Meppen umher, bis man durch Zufall auf ein Freibad stößt. Schon gar nicht, wenn dort laut Musik gespielt wird.
Es ist Umbaupause. Die Band fuhrwerkt an ihren Instrumenten herum, Kabel werden gerichtet und die ersten bekannten Gesichter aus der nun wachsenden Menge vor der Bühne begrüßt. Für den nächsten Act ist das ein Heimspiel. Ich stehe mittig in der zweiten Reihe und neben mir umarmt der Drummer gerade ein Mädchen und ihre Begleitung, die sich dazu über die Barrikade beugen. Schon erraten, von welcher Band ich hier schreibe?
Die Rede ist von RAZZ. Und ich lüge nicht, wenn ich sage, dass die Stimmung wirklich ein Kracher war. Es dauerte nicht lang und ich wurde von meiner Position in den Moshpit hinter mir gesogen. Wenn gerade kein Text zum Mitsingen vorhanden war, gab ich die Gitarrenmelodie zum besten. Beim Herumwirbeln blickte ich in viele glückliche Gesichter und mittlerweile stand die Sonne nicht mehr so hoch am Himmel.
Ich habe letztens nachgesehen – es war bis dato mein siebtes Konzert des Quartetts aus dem Emsland. Und jedes Mal werde ich erneut von der leuchtenden Atmosphäre ihrer Live-Auftritte gepackt. Wer weiß, vielleicht ist zwischen den ganzen Lieblingsliedern auch ein neuer Song? Die Zeile „don’t you know, dust settled on my skin“ ist mir jedenfalls nicht bekannt. Gleich bin ich Feuer und Flamme für die ruhelosen Drums.
Es ging bestimmt nicht nur mir so. Das Publikum war begeistert. Und beim letzten Song rissen wir alle unsere Hände in die Luft und sangen zu Youth & Enjoyment. Die Euphorie reichte auch für den Auftritt der nächsten Band, als ich lachend in den Armen von völlig Fremden lag und wir eingehakt zur Musik tanzten. Erst als die Sonne längst untergegangen war und nur das bunte Bühnenlicht über den zertrampelten Rasen zuckte, beschloss ich zu gehen. Um später glücklich auf der harten Matratze in meinem Doppelstockbett einzuschlafen.