KRAFTKLUB

In der S-Bahn ist es stickig. Die Feierabendzeit drängt Leute zwischen die ausgeblichenen Polster und klebrigen Metallstangen. Meine Hand schwitzt unter dem glatten Material, während die Bahn am Westhafen vorbeiruckelt. In den Gesichtern der Leute spiegelt sich Routine. Angestrengt ins Nichts sehen, wenn der Geigenspieler eine Tür weiter seine Musik gegen Kleingeld eintauschen möchte.

Er fidelt seine Version von Señorita. Ich wollte schon immer Geige lernen. Schmerzlich an mein schwaches Durchsetzungsvermögen erinnert, beobachte ich das S-Bahn-Konzert. Kleingeld habe ich nicht dabei. Doch ein Herr kramt in der Hosentasche. Er sitzt hinten links. Gestriegelt, in Anzug mit Schlips. Auf seinem Schoß ruht ein überdimensional großer Blumenstrauß. Ein monströses Blatt durchsichtiger Folie würgt die zarten Blüten.

Hortensien und weiße Lilien

Ich frage mich, welchen Anlass dieser Strauß zieren wird. Das Blau der Hortensien steht dem Schlipsträger nicht. Er wirft ein paar Münzen in den ausgefransten Becher des Geigenspielers. Dann verschwinden beide durch die sich schließenden Türen. Ausdruckslose Blicke richten sich erneut aus den Fenstern, als ein Mann, ich schätze ihn auf Anfang dreißig, mit kleckernder Bierflasche durch den Gang stolpert.

Seine drahtige Statur kommt neben mir zum Stehen. Jetzt erst scheint ihm aufzufallen, dass der Inhalt seiner Flasche in Flecken den Boden ziert. An einen älteren Herren neben mir gewandt, fragt er mit schwerer Zunge: „Oh das tut mir Leid, habe ich dein Hemd schmutzig gemacht?“. Das desinteressierte Kopfschütteln seines Gesprächspartners nimmt der Anfang Dreißigjährige nicht wahr und fährt unbeirrt fort.

„Mein Bruder trägt neuerdings auch Karohemden. Und seit er studiert, holt er seine Bassgitarre gar nicht mehr raus.“

Verzweiflung und Enttäuschung spricht aus seiner Stimme. Einige Leute schmunzeln. Für mich entfalten diese Worte eine unglaubliche Tragik. Zerbrochene Träume und erwachsene Kindheitshelden. Mit glasigen Augen nimmt er auf einem frei werdenden Sitz Platz. Es wird kurz still. Lange bleibt es nicht so, da setzt der Typ erneut an. Entrüstet diesmal. „All die scheiß Werbeplakate an der Fassade.“ Um ihn herum werden die Reisenden unruhiger. „Bei jeder Reklame denk ich an dich.“ Vielleicht denken sie, er ist verrückt. Blick in die Ferne. Er redet vor sich hin.

„Ich habe seit Tagen nicht mehr geschlafen. Ich geh durch die Straßen und denke an dich.“

Die Situation ist so realistisch, erst langsam klickt es bei mir. Die ehrlich präsentierten Gedanken sind bereits bekannt. „Ich sitze zuhause, kiff auf der Couch. Doch wie viel ich auch rauche, ich denke an dich.“ Im Hintergrund setzt eine krasse Gitarrenline ein. Und ich frage mich, ob die anderen Personen hier es nun auch hören. 

Poetry Slam ähnlich reiht er die Worte in seinem Rhythmus aneinander. Eine kurze Pause, bevor er schief und mit gebrochener Stimme anfängt zu singen. „Denn ganz egal woran ich grade denke, am Ende denk ich immer nur an dich.“ Ostkreuz. Ich steige aus. Und summe diese letzte Zeile vor mich hin. Bisher erschien sie mir harmlos.

Der Mann in der Bahn hat mir damit das Herz gebrochen.

Ich bin kein Kraftklub Fan. Außer Sklave hat sich keins ihrer Lieder bei mir durchgesetzt.  Auftritte der Band, die ich bereits sah, waren unterhaltsam. Und jetzt bin ich hier, tief bewegt. Dass mir die Existenzkrise eines Fremden Zugang zur Musik verschafft, hätte ich nie erträumt. Sonst ist Musik da, wenn wir allein sind. Abgeschirmt im Liebeskummer. Er trug sie in dem Moment bei sich. Pur. Eine Version besser als das Original.