Es ist bereits dunkel. Der Feierabend drängt Leute in die Bahn, wo sich ihre vom Regen feuchten Mäntel berühren. Wer vorausschauend war, hat einen Schirm dabei. Ich wickele mir stattdessen meinen roten Schal um den Kopf, als ich an der Warschauer Straße aussteige. Der stete Nieselregen hat sich zwischen den zersprungenen Betonplatten auf dem RAW Gelände zu großen Pfützen gesammelt. Über den nassen Boden flimmert die Reflektion vereinzelter Lichterketten auf dem sonst unbeleuchteten Weg.
Donnerstagabend im verregneten Berlin
Zwischen bunt-verzerrten Graffitis, einem Stück Kopfsteinpflaster und dem Fotoautomaten vorm Badehaus ist der Eingang des Cassiopeia. Zwei Werbetafeln mit Plakaten, die auf anstehende Veranstaltungen hinweisen, rahmen den Durchgang zum Club ein. Biegt man rechts ab, gelangt man zum Kegel, einer Kletterhalle. Ich finde mich jedoch wenige Momente später vor einer Bühne wieder. Sie dient als Abstellplatz für Kisten und Boxen. Davor stehen deplatziert verlassene Barhocker. Im Nebenraum ist gerade Soundcheck.
Die Uhr zeigt, es ist kurz nach fünf. Gerade habe ich meinen Schal abgelegt, als eine Gestalt schnellen Schrittes den Raum betritt. Die Hände zuerst in den Taschen seiner grauen Jacke vergraben, kommt er vor mir zum Stehen. Streckt dann in einer freundlichen Geste seine rechte Hand aus. Auf seinen Schultern haben Regentropfen frische Spuren hinterlassen. Die gestuften, rötlich schimmernden Haare teilen sich am Ansatz in nasse Strähnen. Es ist Theo Polyzoides, Sänger der Band King Nun, mit dem ich für ein Interview verabredet bin.
Auf einen Kaffee mit dem Sänger von King Nun
Lang hält es uns nicht im Club. Der Londoner hat auf seinem Weg von der Unterkunft hier her eine Ecke gefunden, in der es sich gut Kaffee trinken lassen könnte. Er führt mich durch den Raum, in dem sich The Sherlocks auf ihr Konzert vorbereiten. Der Club ist leer, überall stehen Instrumente und ihre Koffer. Dann treten wir ins Freie, und noch bevor ich wieder unter meinem Schal Schutz vor dem Regen suche, sind wir schon von Kaffeeduft, Tischen und Stühlen umringt. Es stellt sich heraus, dass Theo das kleine Restaurant Emma Pea direkt gegenüber vom Cassiopeia meinte.
Orangenes Licht erhellt die hölzerne Veranda, auf der wir uns niederlassen. Blumenkästen mit mickrigem Grünzeug hängen am Geländer. Von den weißen Stühlen blättert die Farbe. Die Witterung hat den Vorbau gezeichnet, doch charmant heruntergekommen passt es gut an diesen Ort. Von den Gästen wagt sich heut keiner nach draußen.
Das Debütalbum Mass
Ungestört, mit zwei Tassen dampfendem Kaffee vor uns kommen Theo und ich also ins Gespräch. Und es gibt viel zu erzählen. Am 4. Oktober diesen Jahres veröffentlichten King Nun ihr Debütalbum Mass. Elf Songs zwischen rauer Ehrlichkeit, düsterer Atmosphäre und berauschenden (Bass-)Gitarren-Melodien. Die Essenz aus gut dreißig Titeln, die bei den Arbeiten am ersten Langspieler entstanden sind.
„Man kann kein Album mit so vielen Songs veröffentlichen. Also haben wir es im Wesentlichen auf unsere Lieblingslieder reduziert und solche, die eine Geschichte erzählen können“,
erklärt der Frontmann, nachdem er mit einem freudigen „oh fucking great!“ seine Gefühle für den zurückliegenden Release geäußert hat. Auch wenn das Publikum positiv zum Debüt der jungen Band resoniert, ist für Theo die eigene Meinung am wichtigsten: „Solang es mir gefällt, bin ich glücklich.“
Und das scheint er zu sein. Ein breites Grinsen weicht die Gesichtszüge auf, die beim Ansehen der Musikvideos verschlossen, wutverzerrt oder sorgenvoll den Bildschirm dominieren. Doom and gloom. Englische Kultur als Faden, der in den schweren, vielleicht elegischen Bildern und Klanglandschaften von Mass verwoben ist. Auch die Idee, das Album wie eine Predigt zu konzeptualisieren, prägt seinen Charakter.
„Die Songs handeln alle irgendwie von unserem Leben und ein Debütalbum ist dieses große Ereignis – daher machte es für mich den Eindruck, es müsse eine Feier werden. Für das was wir wurden und was wir aus unserem Leben gemacht haben.“
Eine Art Tauf-Zeremonie, das aus Gedanken und Geräuschen Geborene zelebrierend. Geheimnisvoll. Es gibt keinen bestimmten Prediger. In den Kreis wird aufgenommen, wer sich auf die Musik einlässt. Diese Idee erinnert mich an ein Buch, das ich erst vor kurzem las. Thematisiert wurde darin die „okkulte Seite der Rockmusik“. Ist Musik eine unerklärliche Macht, die den Hörer, vielleicht seine Seele, in einem immateriellen Phänomen fesselt?
Während ich meine Frage ausführe, nickt der Sänger von King Nun entzückt mit einem breiten Lächeln. „Fuck yeah! Für diese Frage habe ich genau den richtigen Ort ausgesucht.“ Eine ausladende Handbewegung unterstreicht seine Worte und lässt meinen Blick ein zweites Mal an diesem Tag über bunte Hauswände wandern. Neben unserem Tisch hängt ein großes Bild von einem Jungen, der graue Tränen weint.
„Ich denke, Musik ist auch immer ein bisschen Religion. Wir versammeln uns, um sie gemeinsam zu erleben. Und ich persönlich verstehe nicht, wie Musik funktioniert oder warum sie bestimmte Dinge in uns auslöst. Damit will ich sagen – ich weiß nicht wirklich, warum es zum Beispiel die Definition gibt, dass dich ein Moll-Akkord traurig macht und ein Dur-Akkord fröhlich ist.“
Nachdenklich, aber auch von dem Unerklärlichen hingerissen versucht Theo das Ungreifbare greifbar zu machen. Von seinem eigenen Gedanken, dass in der Musik „vermutlich etwas Besonderes vor sich geht“, muss er schmunzeln. „Das Zusammenfinden von Leuten um eine Sache, die nicht wirklich verstanden werden kann – das hat schon etwas Okkultes an sich.“
Diese mysteriöse Grundstimmung visualisiert die Londoner Band auch in ihren Videos. Black Tree wird von nächtlicher Szene und Bildern aus einer von Kerzen erleuchteten Kirche geschmückt. Es ist das Werk Johnny Goddard’s. Ein Regisseur, mit dem die Band seit einiger Zeit zusammenarbeitet. Simple Ideen verwandelt er in ästhetische Augenweiden, die die Botschaft der Band transportieren.
Vor meinem inneren Auge spielen sich die dunkelrot-atmosphärischen Sequenzen ab, als Theo erklärt: „Ursprünglich wollten wir viele Menschen in diesem Video. Wir wussten nicht wie es passieren sollte, aber wir wollten viele, viele, viele Leute versammeln. Und er [Johnny Goddard] verwandelte es in dieses schräge ‚wir sind in einer Kirche und draußen laufen verhüllte Personen über die Felder'“.
Bald werden King Nun ein neues Video drehen. Für welchen Song, das darf ich noch spekulieren. Theo jedoch ist sich sicher, dass es noch besser wird, als all ihre bisherigen Musikvideos. Die Vorfreude des Frontmanns steckt an. Begeistert erzählt er, wie das Team im Moment über den Inhalt des Videos berät. Genaueres verraten wird er nicht. Nur: „Letztendlich könnte man daraus auch drei weitere Videos machen… Oder eben nur das eine, man weiß es nicht. Ich bin gespannt.“
Musik und Kunst
Vor Neugier ganz nervös geworden, stoße ich mit meinem Knie an die niedrige Tischplatte, als ich mein Bein überschlage. Ich nehme einen Schluck aus der kleinen Kaffeetasse, der Wind hat das Getränk bereits abgekühlt, und hänge gedanklich Bildern nach. Mich fasziniert diese besondere Ästhetik, vielleicht Inszenierung, der Band. Oder allgemein. Wenn Musik und Kunst aufeinandertreffen. Theo geht es genauso:
„Als ich anfing Bands zu mögen, ging es natürlich hauptsächlich um die Musik. Aber auch der Name war wichtig für mich. Oder ein cooles visuelles Auftreten. Das Gefühl, als ob es eine Welt oder eine Gang gäbe, von der du Teil sein kannst. Das liebe ich an Bands! Ich glaube Name, Musik und Kunst – all das zusammen macht diesen Reiz aus.“
Kurz überlege ich, ob King Nun bereits in einem ihrer vielen Interviews gefragt wurden, was hinter ihrem Namen steckt. Doch auch wenn mir das von meinen Recherchen nicht bewusst war, traue ich mich nicht, diese offensichtliche Frage einzuwerfen. Im Nachhinein hätte ich es gern erfahren.
Stattdessen ziehe ich nun die Verbindung zu einer Diskussion, der ich eine Stunde vorher im Uni-Seminar beiwohnte. Das Thema war Authentizität. Und dass selbst im Interview der Gesprächspartner eine Performance seiner selbst ist. Kann man ehrliches Auftreten mit der von Theo und mir geliebten, künstlerischen Darstellung einer Band verbinden? Oder ist die Kunst künstlich?
„Meiner Meinung nach steckt in allem ein wenig Wahrheit. Ich glaube nicht, dass eine Person etwas kreieren kann, das nicht mindestens für ein winziges Stückchen Teil von ihr gewesen ist. In unserem Fall möchte ich es möglichst authentisch halten. So handeln beispielsweise alle Songs von realen Begebenheiten, die uns passiert sind.“
Wir trinken beide einen Schluck und Theo hält kurz inne, um scheinbar sein eigenes Handeln zu reflektieren. Er offenbart: „Ich glaube, wenn ich nicht auf Tour bin, bin ich definitiv weniger gesprächig. Aber das Touren hat etwas an sich… Die Aufregung, Teil dieses Jobs zu sein, von dem wir so lange träumten – das macht eine aufgeschlossenere Person aus mir.“
Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Die Art Person, die dich in den Regen rauszieht und sagt ‚lass uns einen Kaffee trinken gehen'“. Wir amüsieren uns beide über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage. Doch der Kaffee hat eine ganz eigene Bedeutung für den Sänger.
Vergesst die Formalitäten
Theo ist sehr auf eine entspannte Atmosphäre während des Interviews bedacht. Als er sich erkundigt, ob ich mir die Fragen irgendwo notiert habe und ich verneine, ist er kurz überrascht. Doch im positiven Sinn. Das Interview ist schon längst ein Gespräch geworden. Wie sich herausstellt, sind wir beide keine Fans von formalen Treffen. Er erzählt: „Ich gebe mein bestes, irgendwo hinzugehen, vielleicht auf eine Tasse Kaffee, damit es eher wie eine Unterhaltung ist. Da liegt weniger Druck auf einem und man kann besser reden.
„Manchmal kann etwas so einfaches wie ein Kaffee alles wieder richten, also warum nicht? Und ich habe eh ein zu romantisiertes Bild davon, in Europa Kaffee zu trinken. Das ist auch so ein Touristending.“
Dem Debütalbum ist es zu verdanken, dass die Londoner Band im letzten Jahr zweimal Europa bereisen konnte. Auch in Amerika spielten sie Konzerte. Und im Moment können Fans bereits Tickets für eine weitere UK und Europa Tour im kommenden Februar/März erwerben. Da ziehen einige Städte ins Land. Für Sänger Theo Polyzoides ist das aufregend.
Gleichermaßen ist er froh über die Gastfreundschaft und Wärme, das gute Essen, das der Band entgegengebracht wird, wenn sie in fremden Städten einkehrt. Der Sänger sieht das im Gegensatz zu seiner Heimat, „wo sie dir ungelogen nur ein Bier mit den Worten ’nimm das und spiel den Gig‘ zuwerfen.“
Zwischen Kulturschock und Konzert
Gerade reden wir über Berlin und Theo sagt mit Blick auf das RAW Gelände: „Das ist so interessant hier. Wir haben nichts vergleichbares in London. Das ist – so touristisch es jetzt klingen mag – genau, wie ich mir Berlin vorgestellt habe.“ Da laufen einen Meter unter uns die restlichen Bandmitglieder an dem erhöhten Verandagerüst vorbei. Sie sehen sich um und suchen wohl nach dem Eingang zum Club, als sie uns entdecken.
„Hello, this is the interview!“, ruft der Sänger ihnen entgegen. Alle drei – Caius Stockley-Young (Schlagzeug), Nathan Gane (Bass) und James Upton (Gitarre) – heben zur Begrüßung die Hand und verschwinden dann im Cassiopeia. Der Sänger gibt das Interview allein, um chaotisches Stimmengewirr zu vermeiden. Denn der angestauten Pre-Konzert-Begeisterung geschuldet, läuft es unter den vier Musiker nicht selten genau darauf hinaus.
Die Bedeutung von Live-Musik
Dass die Band nun auch an der Venue eingetroffen ist, lässt mich vermuten, dass bald der Soundcheck für sie startet. Bevor ich mein Gespräch mit Theo beenden muss, liegt mir jedoch noch eine Frage auf der Zunge: Ihr seid so viel mit der Band unterwegs. Obwohl man in Zeiten Spotify’s als Musiker doch einfach seine Songs hochladen und es dabei belassen könnte. Das tatsächliche Konzert wird ja nicht mehr wie früher so unvermeidbar zum Musik hören benötigt. Was für eine Bedeutung hat da Live-Musik für dich?
„Oh, diese Frage mag ich sehr! Ich glaube jeder, der irgendwie künstlerisch tätig ist, sucht nach einer Art Flucht. Oder versucht eine andere Welt zu öffnen, wo du dich für eine Weile drin aufhalten und dich wie ein Freak benehmen kannst. Wenn wir eine Live-Show spielen, bin ich einfach an diesem komplett anderen Ort und lasse mich komplett fallen. Und sobald es vorbei ist, bist du wieder in der Realität.“
„Das ist etwas, was nur Live-Musik kann. Wenn du vor anderen Leuten spielst, dann bist du dort. An diesem verdammten anderen Ort, weißt du.“
Ich bin zwar eher Teil des Publikums. Doch das Gefühl, für einen Moment der Realität zu entkommen, oder sich vielleicht kurzzeitig eine neue Realität zu erschaffen, ist mir bekannt. Dafür gehe ich auf Konzerte. Für die Euphorie. Und all die Leute, die man kennenlernt, nur weil man diese eine Gemeinsamkeit, die Musik, teilt und liebt. Das sage ich aber Theo erstmal nicht, sondern frage ihn, ob er sich auch in die Besucher hineinversetzen kann. Warum gehen sie auf Konzerte?
Ich muss schmunzeln, als der Frontmann von King Nun beichtet, dass er keine Gigs besuchte, als er jünger war. „Ich fand sie ziemlich laut“, sagt Theo. „Wenn zu viele Leute da waren, würde ich eher im Hintergrund stehen. Es ist ziemlich schwierig für mich oder ich bin nicht sehr gut darin, Teil des Publikums zu sein. Ich sehe die Menschen tanzen und irgendwie gibt es diese Barriere, dass ich nicht mitmachen kann. Also musste ich von meinen eigenen Gigs lernen, was die Zuschauer davon haben.“
„Ich war nie auf einem Festival, bevor wir selbst eins spielten. Und ich ging nie zu der Art von Konzerten, die wir nun selbst geben. Aber ich denke der Grund ist derselbe wie mit der Kunst – dieses ganze Ding mit der Flucht.“
Heut Abend wird es laut im Cassiopeia. Besucher*innen aus der deutschen Hauptstadt fixieren die vernebelte Bühne mit ihren Augen. Ein Quartett betritt das diffuse Scheinwerferlicht und sogleich brettern Schlagzeug und Gitarre los. Fein in Hemd mit Kragen und der Kontrast zur rohen Musik. Die vier Londoner sind der Welt bereits entflohen, auf der Bühne oder davor.
Jetzt hat Theo Polyzoides kein Problem durch die Reihen des Publikums zu schreiten, bevor er sich auf der Bühne seines Pullovers und darunterliegenden Hemdes entledigt. Roter Lippenstift. Ein Kreis und ein Pfeil. Während er singt, malt er sich dieses Motiv, das das Debütalbum samt Videos durchzieht, auf die Brust. Kriegsbemalung auf den Oberarmen, das Mikrofon rot wie die Lippen. Hung Around ist der letzte Song.
Der Text ist auf Grundlage eines Interviews entstanden, das ich am 21. November 2019 mit Theo Polyzoides, dem Sänger von King Nun, vor ihrem Support-Auftritt für The Sherlocks in Berlin führen durfte. Foto: Jordan Curtis Hughes