WIE EIN KUSS BEIM STAGEDIVE

„Ich kann auch ein bisschen Bach auf der Gitarre spielen. Zumindest den Anfang von der Bourrée in e-Moll. Denn Paul McCartney hat irgendwann mal über Blackbird gesagt, dass der Song davon inspiriert wurde. Da dachte ich, das muss ich auch können.“

Ich schmunzele, als ich beschwingt meinen Rucksack schultere, um zur Uni aufzubrechen. Diese Worte sind scheinbar das perfekte Bindeglied zwischen zwei unterschiedlichen Momenten am heutigen Donnerstag. Der Übergang von in Lederoptik glänzenden Sesseln zu tristen Stuhlreihen. Oder einem Interview mit Shelter Boy und anschließender Vorlesung über Johann Sebastian Bach. Der Dreck auf dem grauen Pflaster knirscht beim Laufen unter meinen Schuhen, während ich die vergangene Unterhaltung Revue passieren lasse.

Treffpunkt Interview

Von Dresden nach Berlin braucht man mit dem Auto zwei Stunden. Ganz so weit war meine Anreise an diesem Vormittag nicht. Nach kurzer Zeit trete ich durch die Hintertür eines Spätis in den Treppenaufgang, der mich geradewegs zum Büro der Filter Music Group führt. Dort ist bereits Simon Graupner eingetroffen, der die sächsische Hauptstadt für einen Tag voller Fragen in Berlin hinter sich gelassen hat. Der junge Künstler ist in der deutschen Musiklandschaft besser bekannt als Shelter Boy und hat sich mit seiner Debüt-EP Mirage Morning, einigen Support- und Festivalauftritten im vergangenen Jahr einen Namen gemacht.

Und die nächste Veröffentlichung steht schon in der Tür. Rock’n’Roll Saved My Childhood (lel) sind fünf Songs, eine Momentaufnahme, die am 24.01.2020 auf Simon’s eigenem Label ZG500 Records erschienen ist. Geschmeidig balancieren sie in der gleißenden Abendsonne auf einem Drahtseil zwischen heruntergekommenen Häuserfassaden. Wo mich der melancholische Gesang in ein Loch aus Nostalgie fallen lässt, fangen mich die rauschenden Gitarren wieder auf. Und dass man zwischen den Saiten nicht nur meint, den rettenden Rock’n’Roll herauszuhören, die Beatles, Elvis vielleicht, sondern auch Hip Hop, kommt nicht von ungefähr.

„Es ist mir wichtig, dass man nicht nur eine Schiene fährt, sondern ganz viel aufsaugt und guckt, wo man dann rauskommt“,

sagt Simon über die Einflüsse für seine aktuelle EP. Die Demos der Songs sind allesamt bei ihm zuhause entstanden. Und genau wie bei Mirage Morning werden auch diese ursprünglichen Versionen der Songs veröffentlicht. Unter dem Titelzusatz Home Recordings.

Als bekennender Oasis-Fan hörte Simon mit Vergnügen deren alten Demos auf Youtube und möchte das nun für seine eigene Arbeit übernehmen. „Ich finde das voll interessant, wenn man hört, wie sich das entwickelt hat. Dass ein Track vielleicht ganz anders davor klang als auf der Platte.“

Laut eigener Aussagen ist das zum Beispiel bei Let Em Go der Fall. Denn vor der Veröffentlichung gab es für alle Songs mit der Unterstützung zweier Produzenten, Sebastian Schütze und Bernhard Pausch, einen Feinschliff im Studio. Und beim Schaffensprozess wird deutlich: Shelter Boy macht Musik nach Gefühl und für das Gefühl. Dabei „kann auch mal etwas vermeintlich scheiße klingen, wenn es dadurch zur Stimmung beiträgt. Ich finde es am wichtigsten, dass was transportiert wird. Ob dann jede Gitarre hundertprozentig gestimmt ist… fuck off.“

Stichwort Gitarre

Dieses traditionsreiche Saiteninstrument war wohl der Auslöser für die musikalische Laufbahn von Simon Graupner. Durch den Vater eines Freundes hat er Gitarre spielen gelernt. Später baute er diese Fähigkeit aus. Dann folgte 2012 die Gründung der Zwickauer Band Still Trees. Ein Quintett, in dem Simon den Platz des Gitarristen und Co-Frontmanns besetzte. Nun ist er mittlerweile solo unterwegs. Der Grund für diesen Alleingang liegt vorwiegend bei der Entscheidungsfreiheit, die in einem demokratischen Kollektiv mehrerer Musiker eher eingeschränkt ist.

„Ich wollte irgendwann nicht mehr auf andere Leute warten, die erst ihr OK geben müssen. So kann ich halt einfach sagen, ich leg jetzt los. Es ist mir wichtig, dass man schnell arbeiten kann und nicht immer auf andere angewiesen ist.“

Mit Shelter Boy, dessen Name von einem Bob Dylan Track stammt, kann sich Simon also ganz seinen eigenen Ideen hingeben. Kreativ impulsiv oder mit anderen Worten: „Ich rotz vieles einfach so hin. Das sind dann Momentaufnahmen. Und dann ist es auch gut so.“

So stecken hinter dem Titel Rock’n’Roll Saved My Childhood (lel) keine monatelangen Vorüberlegungen und Konzepte. Und auch die Findung des EP Covers von Mirage Morning über eine Umfrage in der Instagram Story ist beispielhaft für die selten vorhandenen festen Pläne oder Strukturen im Schaffen Shelter Boys – denn „das ist irgendwie nicht so mein Ding.“

Vom Ausschneiden und Zusammenkleben

Die besagten Cover Artworks für die damals abgestimmt werden konnte, waren beide eigens von Simon zusammengestellte Collagen. Schere und Papier sind für den Künstler eine Ausweichmöglichkeit zum Songs schreiben. „Das mache ich immer zuhause, wenn ich mit der Musik nicht weiterkomme. Ich kann halt null zeichnen, so gar nicht. Und dann dachte ich… ausschneiden!“ Wer einen Blick in den Shop von Shelter Boy wirft, wird auch hier fündig mit Prints seiner Collagen, die außerdem mit einem Downloadcode ausgestattet sind.

Die ersten beiden Mini-Alben stehen. Was jetzt noch fehlt, ist eine eigene Tour. Und auch die lässt nicht mehr lang auf sich warten. Der Auftakt findet am 29. Januar in Chemnitz statt und mit einigen Herausforderungen wächst auch die Hoffnung, „dass überall eine schöne Stimmung ist, sich jeder lieb hat und dass es einfach eine gute Zeit wird. So wie bei den ganzen anderen Shows auch, wo wir Support waren.“

Stagedive und Live-Band

Das „wir“ bezieht sich auf die Musiker, die Simon bei seinen Konzertauftritten unterstützen. Die sogenannte Shelly Family. Dabei entsteht nicht nur eine besondere Atmosphäre, auch die Songs werden zu neuen Live-Versionen ihrer selbst. Am deutlichsten ist das bei Clean Sheets / Blank Page. Zuvor als Akustik-Track auf Mirage Morning fand die Band-Version ebenfalls ihren Weg, diesmal auf die neue EP. „Ich finde es irgendwie schön, dass beide EPs mit dem gleichen letzten Track in verschiedener Form beendet werden.“

Die Interaktion der Band auf der Bühne führt auch nicht selten zu seltsamen Begebenheiten. Denn ab dem Zeitpunkt, wo Shelter Boy auf der Bühne steht, ist ein Schalter umgelegt. Zu der Musik gesellen sich komische Situation und Figuren. Und viel Stagediving.

„Fabi der Gitarrist hat, als wir mit Rikas in Hamburg gespielt haben, angefangen, die Atzen zu rappen. Den kompletten ersten Part von Das Geht Ab. Und dann hat das komplette Molotow auf einmal mitgesungen. Das war eine witzige und sehr absurde Situation“, erzählt Simon von seinen bisherigen Konzerthighlights.

„Mein schönster Moment 2019 war, glaube ich, als Fabi und ich gleichzeitig gestagedived sind und uns dabei geküsst haben.“

„Ich hoffe einfach, dass genug Leute auf Tour da sind, die mich tragen können.“

Dieser Text ist auf Grundlage eines Interviews mit Simon Graupner aka Shelter Boy am 9. Januar 2020 in Berlin entstanden. Foto: Philipp Gladsome