ERSTE KLASSE GANGSTER

Diese Quarantäne macht Dinge mit mir, die ich niemals erwartet hätte. Zum Beispiel habe ich letztens meine Schwester nach dem Link zu ihrer Playlist gefragt. Ich sitze also nun in meinem Kellerzimmer und die niedrige Decke bebt von einem DMX Song. An die zehn Stunden Material hat sie da in ihrer Liste gesammelt. Hauptsächlich das beste an Hip Hop und Gangster Rap aus den frühen 2000ern. Manchmal hat sich auch ein Capital Bra dazwischengedrängelt. Warte – ein Song von Rammstein? Das ist mir neu.

X Gon‘ Give It To Ya – DMX

Ich weiß noch, wie ich den Musikgeschmack meiner Schwester verflucht habe. Auf den ganzen Autofahrten von zuhause nach Hamburg und zurück. Wenn sie mit ihren frisch gemachten Acrylnägeln auf dem Lenkrad trommelt. Aus dem Alter, wo man das, was die großen Geschwister hören, super cool findet, bin ich wohl raus. Um diese Sorte Musik zu feiern (was ich selten aber manchmal tue), muss ich schon in Stimmung sein.

So wie in diesem Moment. Ich sitze also in meinem Zimmer und wackel mit dem Kopf zu Gangsta Nation. Da packt mich auf einmal eine ganz seltsame Erinnerung. An eine Autofahrt. Aber nicht wie oben beschrieben. Diese Fahrt ist schon einige Jahre her. Es ist Spätsommer in 2006, ich bin gerade eingeschult worden. Meine Schwester ist in ihrem letzten Jahr vor den Abiturprüfungen…

Gangsta Nation – Westside Connection

Ich sitze in einer Art Baumhaus. Raues Holz unter den Knien, während ich durch einen Spalt zwischen zwei Brettern die Umgebung betrachte. Besser gesagt den Spielplatz, der sich im Schatten der Bäume vor mir erstreckt. Es wuseln nur noch vereinzelt Kinder zwischen den bunten Gerüsten herum, bis auch sie endlich von ihren Eltern abgeholt werden.

Es ist ein Freitag und irgenwann gegen vier Uhr. Ich ging während meines ersten Schuljahrs nach Unterrichtsschluss immer in den Hort, bis meine Mutter von der Arbeit kam. Das war nicht unbedingt meine beste Zeit, da ich hier keine Sau kannte und auch kein großes Interesse hegte, jemanden kennenzulernen. Meist vertrieb ich mir die Stunden mit Stiften und Papier. Heute sollte mich meine Schwester abholen.

Ante Up Remix – M. O. P.

Blöd nur, dass schönes Wetter war. Denn das bedeutet, alle Betreuerinnen schließen ihre Räume drinnen ab, um auch Kinder wie mich dazu zu bewegen, an die frische Luft zu gehen. So fand ich also meinen Weg in diese Holzhütte auf Stelzen. Über eine kleine Leiter konnte man diese erreichen und auf der anderen Seite mittels einer Rutsche wieder verlassen.

Zu meinem Glück war dieser Platz nicht so beliebt und ich hatte meine Ruhe. Gekonnt ignorierte ich quasi jegliche soziale Kontakte. Vielleicht versteckte ich mich auch vor den Betreuerinnen – denn dummerweise hatte ich nämlich noch meine Hausschuhe an. Und riesen Schiss davor, Ärger deswegen zu bekommen. Wehmütig denke ich an meine Straßenschuhe, die in einem der Räume eingeschlossen waren.

Kleine Sandkörner bohren sich in meine Erstklässlerhände, während ich gedankenverloren den Dreck auf dem Bretterboden hin und her schob. Langsam näherten sich zwei Personen dem Tor, das Parkplatz und Hortgelände voneinander trennt. Ein blondhaariges Mädchen, das ich als meine Schwester identifiziere, und ein schlaksiger Typ mit pechschwarzem Haar. Sie brauchen nicht lang, um mich zu finden und melden mich bei dem Betreuer ab, der keine Notiz von meinen Hausschuhen nimmt.

Poppin‘ Them Thangs – G-Unit

Gemeinsam gehen wir zum Auto des Typen, den ich auffällig von der Seite beobachte. Es ist nicht das erste Mal, dass ich meine Schwester in Begleitung von ihm sehe. Da ich nicht wusste, wie er heißt, taufte ich ihn aufgrund seiner Statur „Fritte“. Die tiefsitzenden, ausgewaschenen Jeans, die seine langen Stelzen verhüllten, machten das Gesamtbild nicht besser. Nach unten hin wurden die Hosenbeine weiter und schlossen bei seinen klobigen Turnschuhen mit einem ausgefransten Saum ab.

Er verlangsamte seine Schritte, als wir an einem Auto ankamen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein silberner Opel Astra G war. Die Lehnen der Vordersitze waren so weit zurückgestellt, dass man praktisch lag. Und am Rückspiegel hing neben aufgefädelten Plastik-Hawaiiblüten, eine goldene Kette an der ein monströser Eminem-Anhänger baumelte.

Forgot About Dre – Dr. Dre, Eminem

Schnell fand mein Blick von der Inneneinrichtung zu einer weiteren Person, die auf dem Beifahrersitz chillte. Ebenfalls ein Kumpel meiner Schwester. Er war deutlich muskulöser gebaut als Fritte, die Ärmel seines weißes T-Shirts spannten sich um seinen Bizeps. Dazu hat er eine graue Jogginghose kombiniert. Und an seinem Hals blinkte ein Goldkettchen.

Mein sechsjähriges Ich gab ihm den Namen „Harte Nuss“, da er seine Haare raspelkurz rasiert hatte und nur kleine rotblonde Stoppeln seine mit Sommersprossen übersähte Kopfhaut überzogen. Er strahlte definitiv etwas Einschüchterndes aus, weshalb ich mich lieber wieder der Fritte zuwendete.

Purple Pills – D12

Einmal sollte ich Harte Nuss nach dieser Fahrt jedoch noch wiedersehen. Ungefähr sechs Jahre später. Meine Schwester war für fast genauso lang schon von Zuhause ausgezogen und hatte ihre Ausbildung am Gericht abgeschlossen. Ihre Baggy Pants hatte sie, genau wie den glitzernden Lippenpiercing lange abgelegt.

Sie besuchte uns oft an den Wochenenden und wir machten einen Spaziergang mit dem Hund. Auch heut, als uns auf halbem Weg Harte Nuss entgegen kam, den ich zuerst nicht erkannte. Die Haare trug er nun etwas länger, ein Muskelpaket war er nach wie vor. Nur kleiner. Aber das lag vielleicht daran, da ich in der Zwischenzeit ein wenig gewachsen war.

Er und meine Schwester begrüßten sich. Ein erstes Wiedersehen, nachdem er die letzten Jahre im Knast saß (?). Komischerweise fand ich das damals überhaupt nicht seltsam. Ich habe einfach abwartend neben den beiden gestanden und die Leine vom Hund festgehalten. Das Treffen dauerte nicht lange, da musste Harte Nuss auch wieder gehen. Er besucht heut noch seine vierjährige Tochter, die er nur alle zwei Wochen sehen darf.

Da Rockwilder – Method Man, Redman

Okay. Im Nachhinein eine seltsame Begegnung. Was aus Fritte wurde, weiß ich nicht. Beim Hören dieser Playlist habe ich noch vor Augen, wie er vor mir in dem Auto sitzt. Oder besser gesagt im Fahrersitz liegt. Mit einem ausgestreckten Arm hält er das Lenkrad, die andere Hand liegt lässig auf dem Schaltknüppel. Langsam schieben wir uns an den Parklücken vorbei durch die Dreißiger-Zone.

Meine Schwester reicht dem Beifahrer eine mit Edding bekritzelte CD, die in einem chaotischen Haufen in der Mittelkonsole steckte und bald hallt ein lauter Bass aus der Boombox im Kofferraum. Jetzt fehlen eigentlich nur noch diese Hydraulikpumpen, die Frittes Karre über die Straße hüpfen lassen und Fritte wäre sicherlich vollends glücklich. Während ich mir fast in die Hosen machte, weil ich ohne Kindersitz mitfuhr. Ohne Kindersitz, verdammte Scheiße! Und obendrein hatte ich doch noch immer meine Hausschuhe an! Wenn das rauskommt.

ps: auf dem Titelbild bin ich zu sehen, noch keine sechs Jahre alt, aber die Gangster-Thematik fand ich passend