KOPFHÖRER UND SOUNDMEDITATION

Freitag, zehn Uhr. Es ist das letzte Seminar für diese Woche. Als ich mich vor den Bildschirm setze, sehe ich zuerst nur den Schweriner See. Dann, auf den zweiten Blick weichen die Gedanken an den bevorstehenden Wochenendausflug den kleinen Videokästchen auf meinem Laptop. Das Rechteck mit dem Gesicht unseres Dozenten ist grün eingerahmt, während er mit seinem amerikanischen Akzent das Thema der heutigen Diskussion vorstellt:

Wie hat die Erfindung der Kopfhörer die Musik und das Musikhören beeinflusst?

Mein erster Gedanke gilt den Topfpflanzen auf dem Fensterbrett, die ich vor meiner Abfahrt definitiv nochmal gießen sollte. Würde ich ständig Musik ohne Kopfhörer hören, wären sie schon längst eingegangen. Denn Rockmusik mögen Philodendron und Co absolut nicht. Besonders fatal wird es, wenn eine elektrische Gitarre involviert ist. Das grüne Gewächs gedeiht am besten bei klassischer Musik, Brahms und Schubert. Allen voran hört es natürlich Bach am liebsten. So steht es zumindest in einem Buch, das ich vor Kurzem las. Eine amüsante Verschwörungstheorie gegen die „satanische Rockmusik“.

Doch zurück zu den Kopfhörern. Von mir am meisten genutzt auf langen Bahnfahrten. Begleiter auf Wegen von A nach B. Wie sehr ich mich an die musikalische Untermalung gewöhnt habe, wird erst so richtig klar, wenn sie fehlt. Die Geräusche werden intensiver und plötzlich fällt der Blick auf ganz neue, doch schon immer dagewesene Dinge. Der kleine Eckladen mit der flackernden Neonreklame. Oder das zurückgelassene Skelett eines lila lackierten Fahrrads an dieser einen Straßenlampe. Als hätte die Musik das Sehvermögen eingeschränkt.

Von Handyakkus und Wanderliedern

Manchmal werden jedoch ohne Musik die Wege länger und Zeit vergeht langsamer. Ich merke wie meine Motivation sinkt, als ich bei einer Stunde Fußweg an der Bundesstraße 5 nicht einfach die zwei kleinen Stöpsel in die Ohren stecken und mich mit fröhlichen Melodien berieseln lassen kann. Der Akku ist leer, kein Telefonjoker für mich auf diesem Weg nach Schwerin. Nachdem das Personal die Fahrgäste zwei Stationen hinter Berlin aus dem Zug lotste – wegen einer Streckensperrung gibt es ab hier keine Weiterfahrt – und ich zu ungeduldig für ein Warten auf den Ersatzverkehr war, habe ich nach anderen Fortbewegungsmöglichkeiten gesucht.

So startet der Wochenendausflug jedenfalls abenteuerlich. Doch per Anhalter zu fahren, habe ich mir einfacher vorgestellt. Jetzt liegen acht der zwanzig Kilometer zum nächsten Bahnhof hinter mir und noch kein Autofahrer hat auf meinen ausgestreckten Daumen reagiert. Kleine Grashalme vom frisch gemähten Seitenstreifen piksen in meinen Schuhen. Und da ich keine Musik hören kann, beschließe ich, selbst welche zu machen. Warum will mir in dieser Situation kein anderes Lied als Im Frühtau zu Berge einfallen? Und selbst davon kann ich nur die erste Strophe.

Neben mir wird ein Auto langsamer. Es ist ein kleines weißes, mit schwarzen Türgriffen aus rauem Plastik. Die Beifahrerscheibe ist heruntergekurbelt. Ein Typ, vielleicht Anfang dreißig, lächelt mir breit entgegen. „Kann ich dich ein Stück mitnehmen?“ In meinem Kopf leuchten die Lämpchen abwechselnd rot und grün, während ich die Vertrauenswürdigkeit des Unbekannten einzuschätzen versuche. Noch ganz außer Atem vom vielen Im Frühtau zu Berge singen, frage ich ihn, ob er am nächsten Bahnhof vorbeifährt. Er nickt, ich steige ich ein. Zwei bunte, geknüpfte Armbänder baumeln am Handgelenk des Fahrers und auf der Rückbank entdecke ich im Kindersitz einen kleinen Jungen.

Haferbrei statt Hautausschlag

Hätte der kleine Junge Kopfhörer, würden wir jetzt nicht auf voller Lautstärke den kleinen Drachen Kokosnuss hören. Ich könnte mich mit dem Typen unterhalten. Über seinen missglückten Versuch, ab einer Autobahneinfahrt zu trampen. Stattdessen schildert der Erzähler im Hörbuch gerade, dass Drachen kein Fleisch vertragen. Sie bekommen davon Hautausschlag. Haferbrei scheint da die einzig richtige Alternative. Ich mag Haferbrei, der Fahrer auch. Bevor ich das Ende der Geschichte um den kleinen Drachen hören kann, muss ich schon wieder aussteigen.

Meinem Ziel, der Mecklenburg-Vorpommerischen Landeshauptstadt, bin ich nun ein Stück näher. Ich setze mich erneut in den Zug und die Kopfhörer auf. Das Handy hängt an einem Kabel an der Steckdose. Die nächste Stunde ist dem neuen Album von Denai Moore gewidmet. So sind alle Passagiere stumm geschalten, Beschwerden über verspätete Züge ausgeblendet. Und genauso froh wie ich über das ersparte Gerede bin, sind wahrscheinlich auch die Anderen, da sie nicht einen einzelnen Song, Grapefruit on The Porch, in unablässliger Dauerschleife hören müssen.

Nachts (und nackt?) im Hafenbecken

Dann gibt es wiederum Situationen, in denen Kopfhörer gänzlich fehl am Platz sind. Wie sähe die ausgelassene Hausparty aus, wenn am Eingang diese Geräte verteilt würden und jeder doch wieder für sich ist? Was wird aus dem nächtlichen Abhängen am Hafen? Unter Mondschein zerreißt laute Musik die Dunkelheit. Ich wälze mich auf der Pritsche im Boot und öffne das kleine Bullauge. Neben kühler Nachtluft und ausgelassenen Melodien, weht mir das Klirren von Bierflaschen entgegen. Auf dem gegenüberliegenden Steg hat sich eine Gruppe Jugendlicher zusammengefunden.

Es ist Vollmond. Er glitzert auf dem leicht gekräuselten Wasser. Das Boot wippt erst nur leicht, dann fängt es an zu schaukeln. Eine der in Dunkelheit gehüllten Personen ist mit lautem Knall im Hafenbecken gelandet. Kurz ärgere ich mich über die Wetterlage, die mein Vorhaben im Schweriner See zu baden durchkreuzte. Vielleicht sollte ich mich dem Typen anschließen. Sein Kopf gleitet durch das Wasser. War das gewollt, oder ist es dem Alkohol geschuldet? Dann kommt die Wasserschutzpolizei. Noch mehr Wellen, zu denen das Boot auf und ab schaukelt.

Der Nachtschwimmer steigt wieder an Land. Die Musik wird gedämpft, es gab Beschwerden wegen Ruhestörung. Und die Gruppe sammelt sich um den triefenden Typen, der sich irgendwo das Knie aufgeschlagen hat. Der Lichtkegel einer Taschenlampe wandert über das blutrote Bein. Ein Verband wird unbeholfen angelegt. Sieht aus, als wäre die Party vorbei. Ich schließe das Bullauge und lege mich zurück auf die Pritsche.

Frühstück zum neuen Joris Song

Neben den Hörgewohnheiten hat sich auch die Musik durch Kopfhörer verändert. Es gibt keine großen Dynamiken mehr. Orchester, die ein Stück unsagbar leise beginnen und in einen ohnmächtigen Paukenschlag münden, sollten nicht durch den Kopfhörer schallen. Und wer will, ständig einen Finger am Regler, die Lautstärke neu einstellen? So werden die meisten Songs auf eine konstante Dynamik geeicht, komprimiert. Töne im Hintergrund verlieren an Tiefe, wie uns der Dozent an einem Beispiel seines jaulenden Hunds erklärt.

Er weist uns zur Soundmeditation an. Jeden Tag zehn Minuten. Vielleicht zum Frühstück oder nachts um drei auf einem Dach in Berlin. Dabei konzentriert man sich auf die Geräusche der Umgebung, ohne sie spezifisch einer Quelle zuzuordnen. Ziel ist es, den am weitesten entfernten Klang herauszufiltern. Dann soll später die Identifikation solcher Songs, die in alter Manier noch Tiefe aufweisen, neben den für Kopfhörer geebneten leichter fallen. Also setzte ich mich auf den Steg neben das Boot meiner Eltern. Mit geschlossenen Augen lausche ich dem Wind, den klappernden Masten der Segelboote und dem Verkehr von weither.

Bis mein Vater mich zum Frühstück ruft. Der neue Joris Song Nur die Musik läuft gerade. Das Radio wird lauter gedreht. „Jetzt mach mal hier deine Meditation und sag mir, was das für eine Flöte ist.“ Ich mag Joris nicht. Das weiß Papa, deshalb grinst er auch so. Nachdem ich auf die Stelle nach dem Refrain warte, vermute ich ein einfaches Pfeifen hinter diesem krächzenden Geflöte. Dann beiße ich in mein Marmeladen-Brötchen. Es ist Sonntag, das Schwerin Wochenende neigt sich dem Ende.