Merkur ist der sonnennächste Planet. Aufgrund seiner kurzen Umlaufbahn kreist er viermal schneller um die Sonne als wir. Und wenn er die Erde auf seinem Weg überholt, sieht es für einen Moment so aus, als würde er rückwärts laufen. Mercury in Retrograde. Die Bezeichnung eines kosmischen Phänomens und gleichzeitig der Titel für das zweite Album der Künstlerin Anehka. Keine Sammlung von Songs, sondern eine visualisierte Klanggeschichte, eine Reise, bewegte Bilder und leuchtende Atmosphäre.
„Ich möchte das, was ich in der Musik sehe, auch auf den Bildschirm übertragen.“
Menschen verlassene Landschaft, Baumkronen und ein Weg mit unerkennbarem Ziel. Während ausgehöhlte Töne wie stehende Luft im Hintergrund flimmern, breitet Anehka ihre Träume und Wünsche darüber aus. Eine engelsgleiche Harmonie formt das Wort „freedom“, Zugvögel am Himmel hinter den Astspitzen. Mit Soul Pleasure beginnt das Visual Album und eine Selbstreflexion, festgehalten in Musik und Film.
Die Hamburger Künstlerin hat mit ihrem Sound experimentiert, sich neu strukturiert und nach Abschluss ihres Studiums in London nach einer, ihrer, Richtung gesucht. Begleitet wurde sie von ihrem Partner Jean Claude Mandji, der Emotionen und Stimmung auf Videokassette gebannt hat. Neben Kamera und Schnitt übernahm er zum Entstehungsprozess auch Mix und Master im Heimstudio. Von Januar bis Anfang Juli 2020 haben Anehka und Jean Claude am Projekt Mercury in Retrograde gearbeitet, vielleicht auch schon ein bisschen früher.
„Zu der Zeit fühlte ich mich sehr inspiriert von Solange’s Album When I Get Home. Das ist so schön, die Bilder und die Symbolik betrachtend.“
Als weitere Ideenquelle dienen nicht selten Traumfragmente oder die titelgebende Planetenumstellung selbst. In ihren Texten verarbeitet Anehka die Bedeutung von Geträumtem, den Einfluss der im Universum vorhandenen Energien. Die Musik bildet die Grundlage und Leinwand für eine Auseinandersetzung mit sich selbst, Zweifeln und Hoffnungen. „Je mehr ich mich damit beschäftige und meine Gedanken nicht für mich behalte, sondern sie mit anderen teile, umso mehr habe ich das Gefühl, den Leuten näher zu kommen. Eine Verbindung zu schaffen.“
Das Gefühl von Verbundenheit, während sich die Künstlerin als einzige Darstellerin in einem Film aus Sonnenaufgangsschnipseln und gekräuselter Wasseroberfläche dem steinigen Ufer nähert. Eine Bitte an die glitzernden Wellen vorträgt. Die Stimme spricht dicht am Ohr. In der Ferne klappern Schienen, wenn ein Zug vorbeifährt. Dann wird das Wellenrauschen durch leichte Klaviernoten ausgetauscht, die zu einer fließenden Akkordfolge übergehen.
„Manchmal habe ich mit einem Klassenkameraden in London Songs geschrieben, nach der Schule oder in der Mittagspause. Er hat angefangen Klavier zu spielen und ich habe dazu gesungen. Dabei ist der Song Interdependent entstanden.“
Vor einer mit leichtem Windzug durchzogenen Kulisse bildet sich ungetrübter Gesang ab. Gedämpfte Drums, wie ein Herzschlag. Und natürlich das Klavier. Auch wenn das gemeinsame, improvisierte Stück mit Klassenkamerad James Attwood Ausgang für eine Entwicklung in Mercury in Retrograde war, säte Anehka den musikalischen Keim ihrer Stücke überwiegend am Computer.
„Durch mein letztes Album Planet Orange habe ich mich mehr ins Produzieren reingefunden und auch gemerkt, wie viel Spaß das machen kann. Ich habe mich daran gewöhnt, Beats zu machen, anstatt mit einer Melodie oder einem Akkord anzufangen.“
Das nächste Stück My Mind Is the Ocean ist auf einen Beat gebettet, der sich aus dem Wechselspiel dumpfer Trommelschläge und perlender Tropfen zusammensetzt. Es mischen sich süß-schwebender Gesang, gesprochenes Wort in englisch oder deutsch und fordernde Rufe. Zwischen raschelnden Zweigen und zitternden Grashalmen fügt sich auch hier eine glitzernde Wasseroberfläche ins Bild ein.
Wiederkehrende Ausschnitte und Zeilen von Meer und Wasser als Symbol für Reinheit und Wiedergeburt. Ein Strom der Emotionen mit dem man fließt oder in dem man untergeht. Das Meer übt eine besondere Anziehung auf Anehka aus:
„Es ist für mich ein Ort der Ruhe. Im Meer kann ich mich von allen negativen Gedanken und Gefühlen klären und eins mit dem Universum sein.“
Ein Videodreh an der Nordsee war für ihr Visual Album geplant, am liebsten auf Sylt. Doch ein Ausflug zu der friesischen Insel war wegen der Corona-Maßnahmen im März nicht mehr möglich. Auch an der Ostsee waren keine Besucher zugelassen. „Dann haben wir so schnell wie möglich alle Szenen in Hamburg und Umgebung gefilmt. Innerhalb von drei Tagen, da wir unsicher waren, ob es eine Ausgangssperre geben wird.“
Hinter den Schatten der knorpeligen Äste erscheint Anehka, wie sie im übergroßen Mantel durch die Landschaft läuft. Zeitlupe, das Video wird zu einer Aneinanderreihung vieler Fotos. Dann eine blinkende Boje in der Nacht. Bei untergegangener Sonne sieht man die schwarze Silhoutte der Künstlerin vor einer Straßenlaterne. Das Bild körnig, der Zoom wackelig und warm-weiche Farben. Das Video hat Jean Claude mit einer Sony Handycam gedreht. Qualität und Atmosphäre der Aufnahmen als perfekter Vermittler der Stimmung von Mercury in Retrograde.
Wenn dann bei I Keep My Dreams in a Diary das Bild in der nächtlichen Dunkelheit versinkt, setzt sich eine liebliche Melodie fort. Man taucht in einen Chor aus Wohlklang. Ein bisschen melancholisch, sehnsüchtig, verträumt. Lässt sich treiben. Bis die Entrüstung des anschließenden Stückes wieder wachrüttelt. Eine Antwort auf die im Raum stehenden Fragen rückt ein Stück näher. Jeder Song ist ein ergänzendes Puzzleteil auf der Suche nach Zugehörigkeit und sich selbst.
„Ich brauche immer eine Lösung, daher sollte sich auch bei meinem Projekt Mercury in Retrograde am Ende alles aufklären. Und so singe ich, dass ich zu mir nach Hause komme, dass ich mein eigenes Zuhause bin.“
„Wenn man sich dieses Gefühl irgendwo hinzugehören selbst gibt, dann ist es zeitlos. Dann kann es dir auch niemand nehmen.“
Dieser Text ist auf der Grundlage eines Interviews mit Anehka am 23.07.2020 entstanden. Fotos und Albumcover: Jean Claude Mandji