IM SOG DER DÜSTEREN WELLEN

Einzig eine schmale Tür hindert nunmehr den Zugang zu dem kleinen Raum. Abzweig eines gedrungenen, verwinkelten Gangs im Backstagebereich des Molotow. Von roten Wänden begrenzt. Ein schwarzer Stern hebt sich vom signalfarbenen Untergrund ab. Und drei mit Kreide darauf geschriebene Worte sind Hinweis, was das Senken der Türklinke offenbart. The Ninth Wave.

Zwei Personen sitzen auf Holzhockern in dem winzigen Zimmer, das kaum Platz für weitere Möbel bietet. Ein runder Tisch, ebenfalls aus Holz, wirkt durch den ständig wechselnden Besuch in die Jahre gekommen. Kleine Pinsel, eine rechteckige Lidschattenpalette liegen darauf verteilt und warten, am heutigen Abend in Gebrauch genommen zu werden.

„Wir gaben hier bereits drei Konzerte und haben dabei jedes Mal auf einer anderen Bühne gespielt. Außer der Skybar. Deshalb fühlt es sich so an, als würden wir heut unsere Auftritte im Molotow vervollständigen.“

Mit einem Schmunzeln auf den Lippen erinnert sich Millie Kidd, eine Hälfte der Glasgower Band The Ninth Wave, an ihr letztes Erlebnis in Hamburg. Sie und ihr männlicher Gegenpart Haydn Park-Patterson erregten mit ihrem „Latexhandschuh tragenden Post-Punk“ im vergangenen September die Aufmerksamkeit der Reeperbahn Festival Teilnehmer.

Erst seit ungefähr einem Jahr steht das Duo in seiner heutigen Konstellation auf der Bühne. Und doch wissen die beiden genau, wie sie ihr expressives Erscheinungsbild mit der Musik verbinden müssen, um ihren schweren, düsteren Klang zu manifestieren. Die Augen mit schwarz oder roten Schatten eingerahmt, Silberkette am Hosenbund. Ärmel schwarzer Spitze ergänzen das eng anliegende Oberteil von Millie, den schwarzen Bass um die Schultern gehängt. Während sich Haydn allmählich das Kabel des Mikrophons in Schlaufen um den Hals legt, wird das Publikum von Millie mit entzürnten Blicken bedacht. Ein bedrohlicher Eindruck, der nahezu dem von Seefahrern als neunte Welle beschriebenen Phänomen gleicht.

In einer Aufeinanderfolge mehrerer Wellen sei die neunte, so heißt es, die stärkste und gefährlichste. Eine finstere Faszination rankt sich um dieses Naturphänomen, das in der irischen Mythologie als Tor zur „Otherworld“ gilt. Diese Welt ist eine für das Auge unsichtbare Insel, die nur Überlebende der unheilvollen Woge beschreiten können. Auch einige Künstler widmeten ihre Werke der „Ninth Wave“.

In den Erzählgedichten Königsidyllen wird der Protagonist beispielsweise von ihr an Land gespült. Das Erlebnis schildert Dichter Alfred Tennyson in Zeilen, welche Fans der britischen Sängerin Kate Bush schon kennen dürften. Denn die zweite Seite ihrer Platte Hounds Of Love trägt nicht nur den Titel The Ninth Wave, sondern auch das besagte Zitat:

Wave after wave, each mightier than the last / Til last, a ninth one, gathering half the deep / And full of voices, slowly rose and plunged / Roaring, and all the waves was in a flame

Fragt man jedoch die junge Band aus Glasgow, ob dieser mythische Hintergrund zur Namensgebung führte, fällt die Antwort weniger positiv aus. Sänger Haydn und Gründer der Gruppe erklärt gelassen: „Der Name fiel mir ein, als wir noch ziemlich jung waren.“ Er scheint kurz zu überlegen. Dann lässt er seine Hand, auf die er zuvor das Kinn stütze, sinken und fährt amüsiert fort: „Wenn ich ehrlich bin, weiß ich auch nicht warum.“ Die Aussage bringt ihn selbst kurz zum Lachen, Millie stimmt mit ein. Das Duo gab ihrem Namen im Nachhinein Bedeutung. Füllte ihn während der Entfaltung ihrer Band mit neuem Sinn.

Nun klauben sie angeregt diese Ideen aus ihrem Gedächtnis zusammen. Durch bekräftigenden Zuspruch bestätigt die eine den Gedanken des anderen. Es fallen bekannte Stichworte der Mythologie oder Seefahrt. Auch das Gemälde eines russisch armenischen Malers wird genannt, in dem die bedrohliche Szene der neunten Woge verbildlicht wurde, bereits neun Jahre bevor Tennyson dies in Worte fasste. Verrückt, wie ein willkürlich gewählter Name die Stimmung einer Band so passend einfassen kann. Nachträgliche Interpretationen spiegeln das von der Musik gezeichnete Bild im Kopf der Zuhörer.

„Wie wurden wir letztens nochmal beschrieben?“ Haydn wendet sich an Millie in der Hoffnung, dass sie die treffende Formulierung erinnert. „Als Tragik von ihrer schönsten Seite“, erwidert die Bassistin und ebenfalls Sängerin von The Ninth Wave.

Sie fügt hinzu: „Mir gefällt der Ausdruck ‚Post-Punk im Krieg'“. Diese Bezeichnung aus dem Mund Millie Kidd’s zu hören, klingt im ersten Moment abstrakt. Wortwahl als auffälliger Kontrast zu der aufgeschlossenen Person, die hier mit übergeschlagenen Beinen auf einem kleinen Hocker sitzt. Hinter der Bühne in gestreiftem Shirt und ohne schwarz unterlaufene Augen. Für ihren Auftritt als Band konstruiert das Duo eine zweite Welt, Inszenierung melancholischer Ästhetik. Teil eines detailliert durchdachten Konzepts ist all dies allerdings nicht.

„Wir versuchen nicht, bestimmten Konzepten zu folgen. Wir enthüllen, was sich bereits in unseren Köpfen befindet.“

Neben einer Vorliebe für verstörende Dinge ist es die Liebe zur Musik, die Gedankenfäden zu fesselnden Melodien spinnt. Das am 3. Mai erschienene Debütalbum Infancy Part 1 als ein aktuelles Beispiel. 6 Songs unterschiedlich und doch von gleicher Schwere durchzogen. Elektronische Drums und Klang mit Nachhall, der den bitteren Beigeschmack der Lyrics bei This Broken Design transportiert. Im zweiten Track All The Things We Do ausgetauscht durch klare Gitarrenlinie, der Hintergrund ein industrielles Soundgerüst. Zwischen abfälligem Unterton in Half Pure und dem umgarnenden Gesang Millie’s bei Used To Be Yours, der sich mit der Stimme Haydn’s ergänzt.

Die hypnotisierenden Töne lösen sich in warmen, sehnsüchtigen Strukturen vom Sänger und erfüllen wie eine mysteriöse Gestalt den Raum.

Nach der Veröffentlichung zweier EPs 2017 und 2018 ziehen sich schon dort angedeutete Themen auch durch das Debütalbum der Glasgower Band. In einem Gewand aus düster-romantischem Prunk, New Wave und Post-Punk, der in roten Latexhandschuhen steckend, Blechmülltonnen demoliert. Worte formen zu sich zu Texten, die Beziehungen zwischen Menschen beschreiben. Zerbrochene, das damit verbundene Alleinsein. Oder in einer Masse, der unbehagliche Anblick fremder Gesichter.

Im Fokus steht ebenfalls unsere eitle Gesellschaft, der Drang zu Konsum und Oberflächlichkeit. Allein im Prozess der Veröffentlichung scheinen The Ninth Wave ihrer Kritik bereits Ausdruck verleihen zu wollen. Denn ihr Debüt besteht aus zwei Teilen, die im Abstand eines halben Jahres herausgegeben werden.

„Wir möchten nicht, dass unser Album zu einem Einwegprodukt wird.“

„Das Album erscheint in zwei Hälften, weil wir denken, dass die Songs so aufmerksamer gehört werden“, klärt der Sänger auf. Einsatz gegen die Schnelllebigkeit der heutigen Welt. Und nicht das einzige Problem, auf das die junge Band ihre Aufmerksamkeit lenken möchte.

Weniger offensichtlich, aber in der Live-Musik-Szene alltäglicher als man sich bewusst wird, ist die sexuelle Belästigung von Frauen bei Konzerten. Um der davon ausgehenden Unsicherheit und den fehlenden Ansprechpartnern für Betroffene entgegenzuwirken, entstand in Schottland die Bewegung Girls Against. Ins Leben gerufen von fünf Mädchen hilft eine Gruppe von Freiwilligen bei Veranstaltungen, das Wohlergehen von Frauen zu sichern. Ein englisches Pendant dazu ist die Initiative Safe Gigs For Women. „Ich denke, diese Organisation ist wichtig, damit sich alle gut aufgehoben fühlen. Sie hilft Frauen, das zu genießen, was jedem Spaß machen und nicht nur eine von Männern dominierte Szene sein sollte“, macht Millie deutlich.

Früher selbst davon betroffen, betont sie wie bedeutend es ist, Bescheid zu sagen, wenn man bedrängt wird. Dem Duo von The Ninth Wave freut es daher, dass Bands wie The Blinders, die sie auf ihrer Tour begleiten, diese Organisation unterstützen. Gewöhnlich ist deren Zielgruppe nämlich überwiegend männlich. An dem engagierten Tonfall und Millie’s ausführlicher Darstellung ist zu hören, dass ihr dieses Thema am Herzen liegt. Sie spricht aus Erfahrung, über längeren Zeitraum die einzige Frau in einem ausschließlich männlichen Umfeld zu sein: „Es kann auf die Dauer schon intensiv werden.“

Anmerken lässt sie sich davon auf der Bühne nichts. Dort ist sie durch und durch Powerfrau, die das Publikum, egal ob männlich oder weiblich, fest im Griff hat. Und wenn die kühle Fassade im Scheinwerferlicht doch zu bröckeln beginnt, ist der Grund viel mehr erfreulich. Grinsend erinnert sich das Duo aus Glasgow an ihren letzten Auftritt im Molotow.

„Bei der Band vor uns war ziemlich wenig los. Ich hatte mich schon damit abgefunden, vor nur zwanzig Leuten zu spielen“, beschreibt Millie die Situation beim Reeperbahn Festival.

Ein belustigtes Glitzern in ihren Augen lässt die damals unvorhersehbare Wendung der Geschichte nun bereits erahnen. „Dann waren wir an der Reihe und es gab Schlangen an beiden Eingängen. Der Club war so überfüllt, dass nicht einmal unser Manager mehr rein kam, um uns spielen zu sehen.“ Die Bassistin lässt den Auftritt Revue passieren. In Gedanken die Überwältigung des Moments konserviert. Das war es auch, was die sonst beherrscht und einschüchternd wirkende Musikerin aus der Fassung brachte:

„Ich brach einfach in Lachen aus und sagte etwas wie ‚Fuck me!‘ ins Mikrophon. Der Tonmann meldete sich mit einem ‚Millie, du kannst doch nicht fluchen!‘ in meinem Ohr. Doch ich hörte einfach nicht mehr zu grinsen auf.“

Als The Ninth Wave am heutigen Abend die Bühne der Skybar betreten, wird ihr unnahbares Goth-Image gewahrt. Der Bass dröhnt aus den Lautsprechern. Die Atmosphäre elektrisiert. Das Publikum ist im Bann des schottischen Duos und ihrem leidenschaftlichen Ausdruck. Aufwallende Hitze breitet sich in dem kleinen Club aus.

Oberkörperfrei und das Mikrophon in der einen Hand, die andere zur Faust geformt schlägt sich Haydn beim Outro zu jedem Swallow Me entrüstet auf die Brust. Auf der Bühne steht er längst nicht mehr. Während sich der Sänger rücklings auf dem Boden räkelt, hält Millie im Scheinwerferlicht die Stellung. Schweiß fließt in schwarzen Tränen über den Ausdruck von Zorn in ihrem Gesicht. Den Unterkiefer leicht vorgeschoben, die Strähnen ihrer weiß-blonden Haare ungebändigt. Kein Lächeln.

Und als sich der letzte Ton in Rauch auflöst, bleibt die Faszination bestehen. The Ninth Wave, kein überlieferter Mythos und doch so berauschend, dass man es direkt weiterzählen möchte.

Die Grundlage dieses Artikels bildet ein Interview, das in Zusammenarbeit mit René von Renés Redekiste entstanden ist. Wir durften Millie Kidd und Haydn Park-Patterson vor dem The Blinders Konzert (08.05.19, Molotow Hamburg) einige Fragen stellen und neben Hintergründen zur Band, auch der ein oder anderen Anekdote lauschen. Das ungekürzte Original-Interview gibt es bei René auf dem Blog. Fotos: Renés Redekiste