WIR SIND HELDEN

Es ist September, einer der wenigen sonnigen Tage. Asphalt zieht sich durch die Landschaft. Sonnenstrahlen wechseln sich mit den Schatten der Bäume ab. Im Auto ist es stickig. Eigentlich zu warm für einen Pullover, den ich notdürftig bis zu den Ellenbogen hochgeschoben habe. Das Radio ist kaputt. Die Musik dringt blechern aus meinem Handy, das zwischen ein paar verblichenen Parktickets und Tankrechnungen lieblos in der Mittelkonsole liegt.

Mein Blick ist in die Ferne gerichtet. Oder in die Zukunft. Die Straßen sind heut nicht viel befahren. Vier Räder rollen scheinbar zum Takt der Musik. Von der Rückbank kommt ab und zu ein Rascheln. Gesellschaft leistet mir allein meine Yucca Palme, die ich fest auf den Sitz gegurtet habe. Der Kofferraum ist tetrisartig mit meinen sieben Sachen verbaut und aus dem Handschuhfach klappern leise Fläschchen mit Kaltgärhefe aneinander (ein Gefallen für meinen Vater). Im Fußraum liegen kleine, knallrote Chili-Schoten verstreut. Und ich?

„Ich weiß nicht weiter. Ich weiß nicht wo wir sind. Von hier an blind.“

Das spricht mir aus der Seele. Wo ich doch gerade eher spontan dem letzten Jahr meines Lebens den Rücken kehre. Ohne große Erklärungen oder Abschiedsworte. Manch einer wird verwundert die Stirn runzeln, dass mein Platz im Theorie-Seminar frei bleibt. Wenn ich längst in einer anderen Stadt meine ersten Kurse verpasse. Oder es fällt halt keinem auf. Denn vermutlich bin ich gar nicht so bedeutend, wie ich es mir manchmal gern einbilde.

Rasant habe ich traute Gewohnheiten auf links gedreht, wie den durchgeschwitzten Pullover nach meiner Ankunft. Wo mir der Kopf steht, weiß ich nicht. Darum singe ich laut den Refrain, gemeinsam mit Wir Sind Helden. Ich warte auf den Einsatz der tiefen, zweiten Stimme. Abwechselnd steige ich dann dort ein. Oder singe, wenn mir danach ist, in verzweifeltem Ton an der Seite Judith Holofernes‘. Auf Spotify leuchtet das on repeat-Zeichen grün. 

Das Lied ist nicht nur schön, weil es mich auf dem Weg in die Ungewissheit begleitet. Es ebnet auch eine Bahn zur Erinnerung, wo alles anfing.

Irgendwo in der Grundschule. Mit schmutzigen Hosenbeinen und Dreck unter den Fingernägeln, weil der Sandkasten eine wahre Goldgrube war. Ständig verloren die Kinder ihr Essensgeld und ich war stets da, es wieder aus den sandigen Buddellöchern herauszupulen. Wenn ich das nicht tat, saß ich nach Schulschluss vermutlich mit einem Sandkastenfreund auf dem Klettergerüst und sang. Er zeigte mir auch das Lied, unsere Pausenhymne, Denkmal von Wir Sind Helden. 

Ohne so wirklich zu wissen, um was es geht, lernten wir den Text nur vom Hören. Wir sinnierten darüber, warum die Leute im Song das Denkmal blöd fanden und kamen zu keinem Entschluss. Ich fragte meine Mutter, was Parolen sind. Und Jahre später fand erst der Begriff ‚engagieren‘ zu meinem Wortschatz. Mit Tomatensoße bekleckert gingen wir gemeinsam aus der schäbigen Kantine. Über die zerbrochenen Betonplatten des Pausenhofs. Wo rote Linien auf dem Boden noch respekteinflößend waren. Ich habe es nie gewagt, einen Fuß darüber zu setzen. Nur vorgestellt habe ich es mir.

Vom Suchen und Finden

Genau wie ich mir damals vorstellte, Kosmetikerin oder Maskenbildnerin (der Begriff Make-up Artist war noch nicht gängig) zu werden. Was würde mein sechsjähriges Ich nun dazu sagen, dass Musik mein Ding ist. Waren das nicht früher Dinos? Oder Hunde? Und der Wunsch ein Fundbüro zu eröffnen? Wenn man wüsste, wo man Dinge fände, dann müsste man gar nicht erst suchen. 

Ich suche gern. Nach alten Fotos, auf denen ich mit unserem Hund Jacky im Garten sitze. Oder nach Kassetten mit der Hitparade 99. Ich suche in Menschenmengen nach bekannten Gesichtern. Oder in fremden Gebäuden nach Räumen. Eigentlich bin ich ständig auf der Suche. Manchmal weiß ich nicht einmal nach was. Und dann mache ich Von hier an blind an. Die Lautsprecher aufgedreht oder im Auto mit gepresstem Ton aus dem Handy.

Und dann fühle ich mich gut. Und schlecht, weil ich nicht weiter weiß. Das wiederum ist erfreulich. Denn immer zu wissen, wie es weitergeht, wäre auch langweilig. Und letztendlich sind die Gefühle verwirrt. Ich im Sandkasten. Ich auf dem Mond. Wahrscheinlicher zwischen unausgepackten Kisten im Bett, die Yucka Palme raschelt zustimmend.