ÜBER UNIVERSITÄTSKINDER UND FAKE TV-SHOWS

Ein sonniger Tag Mitte März. Die gold-gelben Strahlen fallen durch das große Fenster auf mein Gesicht, während ich auf den Hinterhof blicke. Das Dach gegenüber glitzert im Licht. Und irgendwo aus der Entfernung lässt sich eine lieblich trunkene Melodie vernehmen. Mysteriös und umarmend zugleich. Sie weitet sich aus zu einer Songfolge, die ich in den letzten Tagen so oft gehört habe, dass mich ihr Klang mittlerweile auch ohne Kopfhörer oder Anlage begleitet. Paradigmes der Gruppe La Femme – was für ein wundervolles Album!

Vor mich hinträumend stelle ich meinen Laptop auf das Fensterbrett. Es ist 12:35 Uhr, und ich erhalte einen Anruf aus Paris, Frankreich. Die schwarzen Videokacheln füllen sich mit zwei Gesichtern. Beide ziert ein breites Lächeln – eins davon gehört mir selbst, die Situation noch nicht ganz realisierend. Am anderen Endgerät sitzt Marlon Magnée auf seinem Bett, das Zimmer in warm-schummriges Licht getaucht.

„Mir geht es gut! Ich bin gerade erst aufgestanden“, lacht Marlon in die Kamera. Der Keyboarder und zweite Gründer von La Femme hat heut einen straffen Interview-Zeitplan vor sich. „Dann hoffe ich, dass du nicht den ganzen Tag die Fragen doppelt und dreifach beantworten musst“, bemerke ich schmunzelnd, doch das wischt Marlon mit einer losgelösten Geste weg. „Ach, kein Problem. Das habe ich alles im Griff.“

Die Atmosphäre bei unserem Videoanruf ist direkt entspannt, einladend. Und mit jedem Satz merke ich deutlich den kreativen Geist des Musikers und die Leidenschaft zu dem Projekt, das er und Sacha Got ins Leben gerufen und 2010 mit „La Femme“ betitelt haben. Eine Band, die auf ihren Alben verschiedene Genres zu einem synthie-poppigen, psychedelischen, abstrakten, surf-rockigen, elektronisch-dynamischen, vor allem wiedererkennbaren Sound verschmelzen. Nach Psycho Tropical Berlin und Mystère erschien am 2. April 2021 das dritte Album des Künstlerkollektivs. Zwischen dem letzten Langspieler und Paradigmes liegen einige Jahre – Zeit, um vielen Ansprüche gerecht zu werden?

„Die einzige Erwartung an das Album war, dass wir versuchen, es besser zu machen als das letzte.“

Dabei lenkt Marlon nach seiner Aussage sofort mit einem Vergleich ein, der mir bereits aus anderen Interviews von ihm bekannt ist: „Wir sind damit schon ein Level aufgestiegen, aber nichtsdestotrotz liebe ich alle unsere Alben wie eigene Kinder!“ Und zwischen den eigenen Kindern entscheidet man sich ja bekanntlich nicht. „Doch jedes Kind hat seinen eigenen, besonderen Charakter, oder? Wie würdest du den von Paradigmes im Vergleich zu den anderen beiden Alben beschreiben?“

„Vielleicht ist es etwas intelligenter. Denn wir thematisieren in dem Album oft die Philosophie. Zum Beispiel im Song Disconnexion, wo wir über philosophische Probleme sprechen. Oder uns darüber lustig machen – denn manchmal reden Leute in der Philosophie oder in der Politik, im Fernsehen ohne etwas zu sagen. Aber es kommt noch hinzu, dass wir produktionstechnisch bereits zehn Jahre Erfahrung haben, auf die wir aufbauen konnten. Deswegen würde ich behaupten, dass dieses Album auch in Bezug auf die Produktion einen höheren Wissensstand hat. Was aber nicht bedeutet, dass es besser ist als eines der anderen.“

Paradigmes ist unser Universitäts-Kind.“

Im Zuge der Albumproduktion hatte die Band außerdem Besuch im Studio. Posaune oder Klarinette, Hörner, Banjo – die für eine Rockband untypischen Instrumente verleihen einigen La Femme Songs ihren einzigartigen Sound und ziehen gleichzeitig eine Verbindung zur Pariser Jazzszene. Dieses besondere Gefühl, Menschen live beim Spielen ihrer Instrumente zuzuhören, begeistert Marlon nachhaltig, als er sich an die Aufnahmen erinnert. „Es war super cool mit den ganzen Musiker*innen zusammenzuarbeiten! Besonders mit Daniel – der Posaunist ist schon über 70 Jahre alt und spielte vor allem in den 60ern in vielen Bands, auch in der Jazzband meines Großvaters. Und er war so glücklich, bei dem Album dabei zu sein und mit einer jungen Rockband zu spielen. Wir haben ihn ebenfalls zu unserer arte Liveshow eingeladen, worüber sich alle sehr gefreut haben. Das war ein cooles Erlebnis.“

Abgesehen davon gibt es noch weitere Momente, die Marlon positiv mit der Entstehung des aktuellen Albums verknüpft. Einige fanden in Los Angeles statt, wo die Arbeit an Paradigmes begann. Das Kernduo von La Femme mietete sich in das Haus eines Freundes ein, das ebenfalls mit einem Studio ausgestattet war. „Aber es war anders als erwartet. Keine Mansion, sondern ein niedliches Haus mit Studio in der Garage. Ich war nur mit Sacha dort und zusammen zu wohnen, zu kochen war eine schöne Erfahrung. Wir haben auch Weihnachten dort verbracht und zu dieser Zeit Le jardin und Pasadena geschrieben.“

Das dritte Album setzt sich jedoch nicht einzig aus dem Material zusammen, was Marlon und Sacha bei ihrem Los Angeles Aufenthalt gesammelt haben, auch wenn Songs wie Cool Colorado das vielleicht vermuten lassen. Tatsächlich bedient sich das Duo an Songideen, die in den Jahren zwischen 2012 und 2019 aufkamen und nun „reif“ für die Albumaufnahme waren.

„Wir sind ein bisschen wie Kunsthandwerker und mögen es, uns Zeit zu lassen. Wenn sich etwas noch nicht fertig anfühlt, ziehen wir es vor, zu warten. Und vielleicht, wenn wir älter sind oder in einer anderen Stimmung, kommen wir später nochmal darauf zurück.“

„Und wie wisst ihr, wann ein Song fertig ist?“ Ohne eine Sekunde zu zögern antwortet der Keyboarder: „Wenn du sehr stolz auf den Song bist, wie er ist und es nichts mehr zu verändern oder hinzuzufügen gibt.“ Der deutliche französische Akzent, der die Worte Marlon’s stets umrankt, intensiviert meinen Eindruck seiner ehrlichen Hingabe für die Musik. Während unseres Gesprächs berichtet Marlon so lebendig vom Songs Schreiben, Paradigmes und dem La Femme Sound, dass ich direkt von der Begeisterung angesteckt werde. Aber vor allem berichtet er von einer Filmproduktion, für die ich sofort Feuer und Flamme bin.

„Wie kommt es, dass die Musikvideos zu Paradigme, Cool Colorado und Disconnexion alle vor dem selben Hintergrund stattfinden?“, war meine Frage mit deren Antwort ich absolut nicht gerechnet habe. „Wie das miteinander verbunden ist, wirst du mit dem finalen Puzzleteil sehen,“ beginnt Marlon etwas kryptisch die Idee hinter dem Video Set-Up zu beschreiben, „denn mit dem Album werden wir einen Film veröffentlichen. Und all das ist Teil dieses Films – eine Paradigmes TV-Show.“

„Wir haben eine fake TV-Show gedreht, in der es einen Moderator gibt und natürlich Publikum. Und La Femme spielt die ganze Nacht.“

Vielleicht in Anlehnung an all die Konzert-Livestreams hat die französische Band ihren ganz persönlichen, abwechslungsreichen Weg zurück auf die Bühne gefunden. In einem gespielten Fernsehformat, das abgesehen vom Auftritt der Band ebenfalls mit Musikvideos vor anderen Kulissen (wie dem Süden Spaniens in Le jardin beispielsweise) gespickt sein wird. „Es gibt verschiedene Gründe, wie wir auf die Idee für den Film gekommen sind. Als wir den Song Paradigme kreiert haben, hörte sich das wie die Anfangsmelodie einer Show an. Und Disconnexion handelt von Leuten, die in so einer Show sprechen. Daher kamen wir auf ein Musikvideo mit diesem TV-Set. Doch das war zu teuer für ein einzelnes Video und da dachten wir uns: Okay, wisst ihr was, wir machen einfach einen Konzeptfilm daraus.“

„Wow, das hört sich großartig an!“, staune ich nicht schlecht. Mit den bereits veröffentlichen Ausschnitten kann ich mir nur vage ein Bild machen, wie aufwändig die Produktion des Films sein muss oder immer noch ist. Zu den Szenen in der TV-Show, die mit spektakulärem Make-Up und Kostüm, vielen und teilweise skurrilen Gästen, Effekten, Farben und dramatischem Schnitt beeindrucken, kommen noch die inhaltlich eigenständigen Musikvideos. „Wie lang dauert es, um so etwas zu realisieren?“

„Die Dreharbeiten fanden sehr intensiv über zwei, drei Monaten statt. Und jetzt sind wir seit ungefähr einem halben Jahr mit dem Editing beschäftigt. Und den Drehs für die anderen Musikvideos, wovon wir bereits 13 haben und zwei noch in Arbeit sind. Es hat sehr viel Spaß gemacht, die Show zu filmen. Wir trugen alle Anzüge und durften z.B. in die Rolle von Politiker schlüpfen. Das so zu spielen war schon witzig“, schildert Marlon den Prozess hinter den ästhetischen Bewegtbildern, die im Gesamtwerk eines Filmes hoffentlich noch dieses Jahr zu sehen sein werden. Ganz vertieft in die angestachelte Faszination für gute Visuals haben wir nun doch die Zeit vergessen und die geplante halbe Stunde Interview neigt sich dem Ende. „Sobald wir einen Trailer für den Film haben, lasse ich dir den zukommen, ok?“ Was bleibt mir da anderes übrig, als mit einem euphorischen Kopfnicken den Anruf zu beenden und direkt nochmal das Album Paradigmes vom ersten bis zum letzten Song in die queue zu packen.

Dieser Text basiert auf einem Interview mit Marlon Magnée von der Band La Femme am 12.03.2021

Fotos: Oriane Robaldo