MOLOTOW, THE KECKS UND EIN BACKYARDKONZERT

Kleingehäckselte Pflanzenteile wehen auf meine Windschutzscheibe. Es ist Erntezeit und der Traktor vor mir hat seinen Hänger vollgeladen. Langsam schlängeln wir uns die Landstraße entlang, der Gegenverkehr zieht vorbei, die Sonne lässt aufgewirbelte Staubwolken über den Feldern flimmern. Noch eine Stunde bis zum Ziel und im Kofferraum rollen ein Dutzend Äpfel bei jeder Kurve von rechts nach links, links nach rechts, weil der Obstkorb umgekippt ist. 

Zur Mittagszeit biege ich in die Auffahrt ein, bergan. Vor geschlossenem Garagentor kommt das Auto zum Stehen. Ich steige aus. Die rechte Hand schwebt über dem Klingelknopf und in der linken ruht ein erneut gefüllter Obstkorb, als meine Schwester schwungvoll die Tür öffnet. Nicht ganz zwei Wochen ist mein letzter Besuch her und wir hätten beide nicht mit so einem baldigen Wiedersehen gerechnet. Doch wenn’s Konzert ruft, rufe ich nur in den seltensten Fällen teilnahmslos zurück. 

Also ging es auf in die Hansestadt an der Elbe. Nach einem kleinen und besagten Zwischenstopp bei der Verwandtschaft. „Und, welche Band spielt heute?“ Die Stirn des Freundes meiner Schwester verzieht sich zu einem fragenden Runzeln, als ich ihm beide Gruppen des Abends nenne. Leider ist keine Zeit mehr für ausschweifende musikspezifische Einordnungen und ich schiebe mir noch schnell ein Brot hinter die Binde, bevor ich abermals im Auto sitze. Rückwärtsgang rein, bergab. Und dann Richtung Hamburger Innenstadt. 

Reeperbahn, um genau zu sein. Seit das Molotow an den Wochenenden wieder geöffnet hat, war ich wohl öfter zwischen Neonlicht und Fischbrötchen unterwegs, als bei Sonnenschein im Park. Aber wer sagt schon nein zu einem Abend mit Zitronenlimonade und DJ-Set im Hinterhof des Lieblingsclubs? Und meine Liebe zum Molotow habe ich längst gestanden. Tausend Luftsprünge gab es obendrein mit der Ankündigung von künftigen Backyard Konzerten. Auf eines werde ich heute gehen. Der Anlass meiner spontanen Reise.

Die Schlange der Wartenden wirkt wegen der Abstandsregelung seltsam auseinandergerupft. Vor dem Eingang verteilt jemand kleine Schnipsel zur Datenerfassung. Doch das Blatt in meiner Handfläche biegt sich unter dem Druck der Kugelschreibermine und jetzt sieht es so aus, als hätte eine Zweitklässlerin ihre erste Schreibschrift ausprobiert. Hinter mir hickst eine Männergruppe Phrasen auf dänisch, über die sie unglaublich amüsiert lachen. Auf ihrem Zettel steht ein einziges Gekrakel. Dafür hätte es auch mit Auge zudrücken kein Bienchen gegeben. 

Der Einlass geht zügig und die bunt beklebte Box füllt sich mit gefalteten Adressschnipseln. An die fünfzig Leute haben Karten für das ausverkaufte Konzert. Ich trete in den Gang und hinter die rote Fassade. Im Hof stehen wie gewohnt Bänke unter weißen Schirmen. Bunte Lichterketten verhängen den dämmernden Himmel. Auf der Bühne sind Instrumente drapiert, die in einem leichten Kunstnebelschleier versinken, Scheinwerfer strahlen in rotem Licht. Ach, wie habe ich diesen Anblick vermisst.

Bedacht stelle ich meine angebrochene Limonade zu meinen Füßen ab, als vier Personen nacheinander auf die Bühne treten. Ich beobachte gebannt, wie sich die Gruppe hinter Instrumenten und Mikrofon platziert. Der Gitarrist vervollständigt als letzter das Bild der Band. Vorher drückt er einem Mädchen in bestickter Jeansjacke noch schnell sein Handy in die Hand. Ein Livestream für Daheimgebliebene. Zoom auf den Sänger im gestreiften Hemd. Dann ein Schwenk auf die anderen Bandmitglieder, die unter zuckenden Lichtern zum ersten Song ansetzen.

The Kecks. So steht es im Programm. Eine Gruppe Wahlhamburger mit Ursprüngen in Australien, Österreich und der UK. Kennengelernt haben sich die Mitglieder auf einer Busfahrt nach Berlin, die sie zu einem The Growlers Konzert brachte, und außerdem selbst auf die Bühne. Wie heut im Molotow. Für die Kecks hat dieser Club ebenfalls Lieblingsort-Status, mehr Bedeutung als ein zweites Zuhause. Und so kommt es, dass sie nicht nur als Vorband von Abramowicz, sondern auch das erste Backyard Konzert der Saison eröffnen. 

Rauschender Gitarrenrock dröhnt aus den Lautsprechern. Die Bank, auf der ich sitze, wippt auf und ab wie der Fuß meiner Sitznachbarin. Sie und ihr Begleiter sind bekennende Abramowicz Fans. Doch durch den langen Konzertentzug lässt sich die Begeisterung bereits beim Support nicht mehr zügeln. Auch mir kann niemand mehr das Dauergrinsen aus dem Gesicht wischen. Es ist mein erstes Konzert seit Anfang März. Und alles kribbelt, weil zwischen den Musikern, den über die Basssaiten hüpfenden Fingern, tänzelnden Frontmännern und gemütlich am Bier nippendem Publikum kein trennender Bildschirm steht. Die Atmosphäre ist vor Ort.

Bisher haben The Kecks nur zwei Songs veröffentlicht. Modern Girls, dessen Musikvideo ebenfalls das Molotow als Kulisse hat, und die Debütsingle Stick in My Throat. Bald folgt darauf All For Me, vielleicht irgendwann eine EP, ein Album? Die nächste Aufnahmesession hat die Gruppe jedenfalls bereits im Blick und eine Reise nach London zu JB vom Buffalo Recording Studio, mit dem sie bereits an vorigen Tracks zusammengearbeitet haben. 

Jetzt klatschen die im Backyard versammelten Gäste. The Kecks haben die Setlist neben den genannten um ein paar Songs erweitert, mit ruhigeren Tönen, dann entrüsteter oder verzerrter Stimme bei einem Einwurf von Kavinsky’s Nightcall für die Ryan Gosling Fans. Die letzte Gitarrenmelodie verklingt, Applaus und ein leiser Jubel von den paar Dutzend Besucher*innen. Bei den geistershowartigen Livestreams vermisst man schnell das direkte Feedback vom Publikum, umso dankbarer ist die Band für jede Chance, wieder auf der „richtigen“ Bühne zu spielen. 

Auch, weil es die Leute sind, die die Musik am Leben erhalten. The Kecks haben nicht den Anspruch mit ihren Songs das Rad neu zu erfinden, höchstens sich selbst. Musik ist hier das Medium, um Ereignisse und Gefühle zu verarbeiten. Solang ihre Konzerte ein Publikum haben, es Personen gibt, die sich gern die Stücke anhören und davon berührt werden, macht Musik noch Sinn. Und ich denke, das tut sie auch darüber hinaus. 

Dazu braucht man allein die Freundschaft zwischen den Bandmitgliedern zu betrachten, die mehr miteinander teilen als einen Proberaum und für Konzerte die Bühne. So gleicht das gemeinsame Songschreiben für den Sänger von The Kecks einem abendlichen Familienstreit am Esstisch. Jeder serviert andere Ideen und Vorstellungen von dem zukünftigen Stück, die meist bei einer Auseinandersetzung damit auf links gedreht werden. Gemeinsam verbrachte Zeit und der Austausch über persönliche Erlebnisse prägen die Musik. 

Nachdem die vier Künstler nun die Bühne für den Hauptact des Abends räumten und alle leeren Gläser an der Bar neben dem DJ Pult wieder augefüllt wurden, mache auch ich mich auf den bepfeilten Weg, um mir eine weitere Zitronenlimonade zu kaufen. Der Flaschenhals fühlt sich kühl an zwischen meinen Fingern, die Flüssigkeit prickelnd auf der Zunge. Noch ein großer Schluck, dann setzen schon Abramowicz ein. Eine weitere Hamburger Band, ihr Wiedererkennungsmerkmal ist zweifellos die raue Stimme des Sängers. 

Abgesehen vom Gesang gibt es jedoch nichts, was sich reibt. Die Songs plätschern vor sich hin und ich konzentriere mich auf die Schlagzeugrhythmen. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde ich mir ein Album von Abramowicz nicht zuhause anhören, live hat es trotz dessen seinen Reiz. Die Molotow-Gäste sind begeistert. Köpfe nicken im Takt, die Haare scheinen bunt von den gespannten Lichterketten. Es gibt viele lächelnde Gesichter für dieses Konzert. Auch bei dem Clubteam, das ansonsten geschäftig von A nach B huscht, auf einen reibungslose Abendgestaltung bedacht. 

Schneller als man sich versieht, kündigt die Band ihren letzten Song an. Ein letztes Mal verdecken Nebelschleier die Sicht auf den Schlagzeuger in der zweiten Reihe. Rotes Scheinwerferlicht ziert erneut den Bühnenrand. Ich zücke meinen klobigen Fotoapparat, um ein Erinnerungsbild zu schießen und bevor ich nach dem aufbrausenden Beifall meinen Heimweg antrete, kommt ein bekannter blonder Haarschopf auf mich zu. 

Der Gitarrist von The Kecks hat einen Stapel glänzender Sticker dabei und drückt mir davon welche in die Hand. Die Besucher*innen steuern langsam dem Ausgang entgegen, wir hingegen erklimmen die Stufen zu den Backstage Räumen vom Molotow. Dort tummeln sich auch die restlichen Mitglieder der Band, die mich für den heutigen Abend nach Hamburg eingeladen hat. 

Joel (Bass), Lennart (Gesang) und Sam (Gitarre) machen es sich auf einem schwarzen Ledersofa bequem. Im Rücken eine Fensterfront mit Blick auf die Reeperbahn und in der Hand ein Bier aus dem magischen Kühlschrank, dem es nie an Getränken mangelt, egal wie viel man bereits daraus hervorgeholt hat. Die Stimmung ist entspannt, in der Luft liegt Zigarettenqualm und die ein oder andere Anekdote aus dem Bandleben. 

Schmunzelnd erinnern sich The Kecks an die vielen vergangenen Nächte im Molotow zurück. Und an die Anfänge ihrer Band, mit ersten Auftritten und einigen Wohnzimmerkonzerten, bei denen sie im Anschluss an die eigenen Songs auch einfallslose Coverwünsche der Gäste vortrugen. Mr. Brigthside? Sicherlich auch dabei. In den vergangenen Monaten gab es eher Livestream-Konzerte. Und Zeit, um an Songs und Musikvideos zu feilen, wie für All For Me. Als erstes werden die neuen Kompositionen dann den Müttern von Sam und Joel vorgezeigt. So auch bei der kommenden Single, die bei den beiden etwas Unklarheit stiftete. Doch wenn die Mutter die Sachen, die man macht, nicht komplett versteht, ist es „just right“, wie Joel anmerkt. 

Wir unterhalten uns über die Tücken des Songwriting und was Sam dazu bewog, eine CD mit Froschgeräuschen zu kaufen. Manchmal klingen alle Tonabfolgen beim Herumprobieren auf der Gitarre wie ein bereits existierender Song. Gedanken kreisen um Zweifel am eigenen Einfallsreichtums und der Erkenntnis, dass die Akkorde nicht neu erfunden werden können. Da kann es hilfreich sein, sich für einen Moment den Soundaufnahmen von Fröschen zu widmen. Oder?

Amüsiert über die Wendungen, die diese Unterhaltung nimmt, kommt öfter mal ein lachendes „das schreibst du aber nicht in den Text, ok?“ seitens der Band. So klingt mein Abend und die spontane Reise in die Hansestadt aus. Von den ledernen Polster des Molotow Sofas zurück im Autositz. Stick in My Throat schallt blechern aus dem Handy, während ich mit anstimme und das Parkhaus zu vorbeifliegenden Stadtlichtern hinter mir lasse.