Der Karton fühlt sich glatt an, als ich sanft über die quadratische Hülle streiche. Eine rote Sonne zerfließt unter meinen Fingerspitzen, während die surreale Landschaft still in der Abenddämmerung liegt. Sterne glitzern auf dem von unberührten Dimensionen gekerbten Boden und leichte Wolken schweben im aprikosen-fliederfarbenen Himmel. Vorsichtig ziehe ich eine schwarze mit weißem Text bedruckte Schutzhülle aus dem Cover. Die letzte Schicht und das Herzstück ist freigelegt.
Gedankenverloren drehe ich die Schallplatte in meinen Händen. Orange, hier und da schimmert etwas Gelb, von rostroten Fäden durchzogen. Die Farbe leuchtet satt in dem schräg durch das Fenster einfallenden Licht. Und geht Ton in Ton mit der Rückseite des Covers, auf der in großen Buchstaben zehn Songtitel stehen. Fünf davon blicken mir vom Plattenlabel entgegen, das sich langsam auf dem Drehteller bewegt. B-Seite, Up Close EP und in einem Kästchen darüber der Bandname: Sultans Court.
Good Enough
Bedacht senkt sich der Tonarm des Plattenspielers ab. Es knistert kurz, dann tauchen aus einem kindlichen Stimmengewirr entfernte Sirenen auf. Sie tragen den Refrain des ersten Songs. Auftakt der neuen EP und gleichzeitig ein markiertes Ende im Songwriting Prozess. Bis hierhin haben Julius Klaus und Konstantin Hennecke als Duo Songs geschrieben und produziert, danach zieht ein Vierergespann die Register für alle Melodien. Was auf einer Mitfahrgelegenheit zum MS Dockville Festival als Zweierkonstellation entstand, bekam durch erste Konzertauftritte Zuwachs und wurde zu einer Band. So finden sich für Up Close auch Markus Hartung und Leander Kohn zum Songwriting im Studio wieder.
Neu ist nicht nur das gemeinsame Komponieren, auch die eigenen Ansprüche sind im Vergleich zu ihrer Debüt EP From Afar gestiegen. Sultans Court wollen mit ihrer Musik etwas Originelles erschaffen, sich auf neues Territorium vorwagen und vor allem: „Sich selbst überraschen! Wir haben eine Abneigung dagegen, den gleichen musikalischen Move nochmal zu wiederholen, nur weil er früher funktioniert hat. Das wird direkt langweilig und steril.“
Also begeben sich die vier Musiker auf eine Reise. Zu sich selbst, den Abgründen ihrer Kreativität und ins Weserbergland. Dort befindet sich Markus’ Elternhaus, das sie für die Entstehung von EP Nummer zwei als Rückzugsort vor dem Großstadtwahn Berlins aufsuchen. An mehreren Wochenenden und einem verlängerten Aufenthalt über den Jahreswechsel hat die Band die Möglichkeit, sich komplett auf ihren Sound einzulassen und den Fokus weg vom städtischen Alltag auf die Musik zu lenken.
„Ich glaube, das ist kopfmäßig schon hilfreich, wenn man nicht nur stückweise zwischendurch daran arbeitet, sondern sich voll darauf konzentriert“, sagt Julius, der zuvor mit Konstantin zusammen in dessen Zimmer an Songs gefeilt hat. „Wenn man extra dafür wegfährt, gibt es auch diesen festgelegten Zeitraum, wo man weiß, am Ende möchte man mit irgendetwas rausgehen, das inspiriert und vielleicht sogar eine Tür für einen kompletten Song öffnet. Das haben wir auch oft geschafft. Aber nicht immer.“
Denn so schön die Vorstellung von einem gemeinsamen Wochenende in WG-Atmosphäre auch ist, mit Kochabenden oder Saunagängen, so schmerzlich fühlt sich ein Tag ohne brauchbare Ergebnisse an. „Musikproduktion ist das Gegenteil von Fließbandarbeit“ und werden sie nicht gerade von der Muse geküsst, die aus anfänglichen Loops die schönsten Klangskulpturen meißeln lässt, stehen Sultans Court als Band auch einigen Herausforderungen gegenüber.
Running
Beständig kreist die Schallplatte auf dem Spieler, die Nadel tastet sich die Rille entlang. Aus den Lautsprechern fließt ein flimmernder Klang, bald von einem Beat, einer luftigen Flötenmelodie begleitet. Für den zweiten Song auf der EP war diese Flötenmelodie der Schlüssel oder eher das Brecheisen, um eine lang verschlossene Tür einzutreten. Die grundlegende Idee, aus der sich ein Song entwickelte, der bis dahin für Verzweiflung und strapazierte Nerven sorgte.
„Die größte Herausforderung war der letzte Track, den wir geschrieben haben, Running. Wie auf der vorigen EP wollten wir nochmal fünf Songs veröffentlichen, doch wir hatten erst vier geschrieben, die wir cool fanden. Also brauchten wir noch einen. Und dann sollte es auch potenziell eine Single werden. Das war über Silvester und irgendwie war das ganze Jahr schon gelaufen, wir hatten viel geschrieben und waren deshalb ziemlich leer. Da ist dann Tag für Tag vergangen und es kam nichts bei rum. Am Ende wurde es natürlich immer zäher.“
Kreativität kann man nicht erzwingen, wie Sultans Court feststellen mussten. Und manchmal kommt sie dann unvorhersehbar, ohne ein Wissen woher, zwei Tage vor der Abfahrt. „Wir sind auf diese Flötenmelodie gekommen und das war dann endlich der Auslöser.“ Oder die Ablösung von Tagen, die auch Markus als sehr schwierig und anstrengend in Erinnerung hat. Sonst war er immer der erste, der sich nachts ausgelaugt ins Bett fallen ließ. Doch „als wir gemerkt haben, dass sich endlich der Song entwickelt, saßen wir die letzte Nacht noch bis fünf, sechs Uhr morgens daran. Da meinte Julius nur ’jetzt scheint es interessant zu werden, Markus bleibt so lange wach.’“
Mit einem Schmunzeln rufen die Bandmitglieder den Moment zurück ins Gedächtnis, an dem sich ihr Tunnelblick entschärfte und die Sicht auf vorher nicht berücksichtigte Möglichkeiten freigab. Auch Julius, der nach halbherzigen Gesangaufnahmen kurzerhand das Mikrofon hinwarf, ließ sich im Nachhinein von deren ungeahnten Potenzial überzeugen. „Ich dachte erst, das ist totaler Bullshit, den ich gerade gemacht habe… Und dann wurde das aber der Chorus.“
Nach langer Arbeit ist es soweit. Ein eigener Song, stimmig und den gesetzten Anforderungen entsprechend. Glückshormone werden ausgeschüttet oder Höchstgefühl, ein Kick. Das Streben danach sollte jedoch nie das eigene Wohlbefinden einschränken. „Darauf wollen wir achten. Es kann auch gefährlich sein, sich diesem Druck auszusetzen, weil man sich dadurch komplett entleert. Die Energien sind weg, die man normalerweise in sich selbst investiert. Denn in Musik Energie reinzustecken bedeutet nicht gleichzeitig, dass man sich pflegt und etwas für sich macht. Ich glaube, das haben wir bei der letzten und auch dieser EP wieder gelernt.“
Mit einem Ausflug in die Therme sind Markus und Julius der ständigen Suche nach einer passender Melodie entflohen. Konstantin schwingt, um kurzzeitig Abstand zur Arbeit zu gewinnen, lieber den Kochlöffel. Dass sich das Songwriting jedoch nicht immer so zäh ziehen muss wie bei Running, zeigen die ersten Schreibversuche in der Viererkonstellation.
Warning Signs
Der dritte Song schließt sich unmittelbar an einen letzten Textfetzen vom vorigen an. Dumpfe Drums, düster-sirrende Atmosphäre über die sich gehauchter Gesang legt. Irgendwann sind im Hintergrund zwitschernde Amseln aus dem Weserbergland zu hören. Warning Signs ist der erste Song, den Julius, Konstantin, Markus und Leander gemeinsam geschrieben haben. Die Herangehensweise war entspannt und durch den gelungenen Start in die EP mit Good Enough beeinflusst, sodass die Band nicht lange auf die zündende Idee warten musste.
„Es gab relativ schnell diesen Moment, wo es einfach geflossen ist. Wir hatten wieder einen Loop und dann diese Bassline. Die hat eigentlich entschieden, wie der Song endet.“ Dass die Entstehung von Warning Signs intuitiv so gut lief, sieht man auch, wie Konstantin findet, an den nur minimal vorhandenen Unterschieden zwischen Demo und Endversion des Songs. „Selbst Mixing-Einstellungen wie die Vocals, die in der Demo meist eher sporadisch sind, blieben am Ende fast genauso. Der Vibe war perfekt.“
Einen Song im Nachhinein aufzupolieren ist immer eine Gradwanderung. Und die Entscheidung schwer, ab wann das Kompromisslose und Raue beim Versuch, das beste aus einem Stück herauszuholen, verloren geht. In manchen Momenten bedeutet es auch, wieder mit den nachträglichen Einstellungen zurückzurudern. „Am Ende sollte die ganze Sache noch Reibung erzeugen können. Dadurch muss es an bestimmten Stellen einfach rough bleiben und man lässt eigenartige Elemente drin, die man am Anfang macht. Das gibt dem Song Charakter.“
Zwischen Banalität und Komplexität finden Sultans Court ihren Sound. Gegensätzliche Herangehensweisen der Bandmitglieder treffen genau in der Mitte aufeinander. Wo Julius noch einen draufsetzen will: „Ich wäre nie fertig mit einem Song und würde immer weiter machen“, zieht Konstantin die Schlusslinie: „Bei mir liegt das auch daran, dass ich zu Anfang Hip Hop Beats produziert habe. Die sind ja oft sehr simpel und dadurch ist man schnell an dem Punkt, dass es jetzt passt“.
Run Over
Die Nadel des Plattenspielers hat bereits die zweite Hälfte der B-Seite überschritten, unter ihr dreht sich das gesprenkelte Orange. Run Over als Beispiel dafür, dass sich Julius mit seinem zerstörerischen Ansatz beim Songwriting auch durchsetzen kann. „Der Song wurde nochmal komplett auseinandergenommen.“ Nichtsdestotrotz versichert der Sänger: „Es gibt schon einen Punkt, an dem man das Gefühl bekommt, es ist jetzt gut.“
Sobald das erreicht ist und die Songversion fürs erste final, kommt mit angekündigten Konzerten eine erneute Überarbeitung auf die Gruppe zu. Die meisten Stücke werden ganz ohne Berücksichtigung von späteren Live-Auftritten geschrieben, um die vier Musiker in ihrer Kreativität nicht einzuschränken. Markus, der durch frühere Bands noch direkt bei den Proben an Songs arbeitete, merkt „wie befreiend es sein kann, weil man eben nicht so viel hinterfragt. Vieles lässt sich für einen Live-Kontext auch im Nachhinein noch lösen und wenn nicht, ist es auch nicht schlimm. Dann klingt es halt ein bisschen anders.“
„Ich selbst freue mich als Konzertgänger und Zuhörer, dass die Studioversion auch anders klingen kann als die Liveversion,“ fügt Julius hinzu. „Und es ist total spannend als Musiker das Ganze wie eine Art Übersetzer zu betrachten. Zu sehen, was in der Studioversion funktioniert und live überhaupt nicht. Und sich dann zu überlegen, wie man es am besten übersetzt.“ Dass sie all ihre Songs ausschließlich am Computer komponieren, trägt auch zu dem Ansatz bei, ständig das Gesamtbild im Blick zu haben. Hier gibt es keine Egos. „Wenn die Gitarre nur einen Ton spielt, dann spielt sie nur einen Ton. Insgesamt macht die Summe aller Teile es gut und nicht ein einzelnes.“
Dabei schimmert der Perfektionismus von Sultans Court durch. Die Liebe zu jedem kleinen Detail, das seinen Weg in einen Song findet und ihn damit für die Band so hörenswert macht. Und auch wenn es manchmal auslaugend ist, sich die Musik nur digital zu erschließen, wenn ein unveränderter Loop tagelang durchläuft oder das Gefühl des Musikmachens beim Kuratieren vom eigenen Material für kurze Zeit in den Hintergrund rückt – „Ein einziges gutes Sample oder Instrument, was du zuvor noch nie gehört hast, kann direkt eine neue Ebene öffnen. Und in eine Richtung lenken, die vielleicht spannend ist.“ Zuerst scheint es vielleicht absurd, doch bekennt man „Mut zur Dummheit“, ist offen für neue Elemente, dann kann der nächste Ohrwurm entstehen. Oder eine ganze EP.
Sublime
Der letzte Song breitet sich wie eine rauschende Welle aus. 4:20 Minuten, dann ebbt der Klang ab. Mit einem Ruck hebt sich der Tonarm, der Drehteller wird langsamer. Ich halte die farbige Scheibe erneut in den Händen und stecke sie behutsam zurück in ihre Hülle. Das ist also Up Close. Die A-Seite hat ihre eigene Geschichte. Noch einmal streiche ich fasziniert über das Cover, bevor es ganz vorn im Stapel meine Plattenkiste ziert.
Dieser Text ist auf Grundlage eines Interviews mit Julius, Konstantin und Markus am 25.09.2020 in Berlin entstanden. Fotos: Steve Glashier (1,3), Jeanette von Bear Film (2,4)