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Mit einem großen Schritt steige ich auf den kniehohen Eckschrank und setze mich neben den Plattenspieler. Darauf bedacht, die elektronischen Geräte nicht aus Versehen zu Boden zu befördern, versuche ich es mir in der kleinen Lücke zwischen Drehteller und Lautsprecher gemütlich zu machen. So gut es eben geht. Warum das ganze? Nun, näher werde ich der WLAN-Quelle wohl nicht mehr kommen. Und für mein heutiges Vorhaben ist eine stabile Internetverbindung Voraussetzung.

Es ist kurz vor 13 Uhr. Mein Handy lehnt gegen den Bildschirm meines Laptops, welcher wiederum auf einem kleinen Tischchen vor mir platziert ist. Und mit ausgestrecktem Arm tippe ich auf dem Telefon herum, bis ich durch die Innenkamera einen Blick auf mein Gesicht vor Setlist behangenem Hintergrund erhasche. Gerade möchte ich mich wieder vom Display abwenden, als eine Nachricht am oberen Bildschirmrand aufploppt.

Gebt mir fünf Minuten, dann starte ich einen Videoanruf.

Ich öffne den Gruppenchat, dem diese Nachricht entstammt. In der linken Ecke leuchtet mir eine schwarze Wortmarke auf pinkem Grund entgegen, wo sich sonst das Profilbild befindet. Vier Teilnehmer bilden diese exklusive Runde und so teilt sich auch das Bild auf meinem Display in vier, als ich einen eingehenden Anruf entgegennehme.

In den oberen Kästchen tauchen zwei Personen auf. Beide tragen diese kleinen In-Ear-Kopfhörer, die durch ein weißes Kabel an ihre Handys angeschlossen sind. Aus der rechten Ecke werde ich mit einem freundlichen Lächeln begrüßt. Es ist von Harry Dobson, Bassist und Synthie-Spieler der Band KOKO. Ein mittellanger, brauner Haarschopf, von dem einzelne Strähnen wild nach allen Seiten abstehen, rahmt sein Gesicht ein. Er trägt ein ärmelloses, weißes Shirt und der blaue Himmel im Hintergrund zeichnet den Beginn eines sonnigen Donnerstagnachmittags.

Daneben mache ich das Video von Ashley C aus, Gitarrist bei KOKO und ebenfalls an den Synths zu finden. Der begrünten Aussicht nach, befindet auch er sich draußen, vielleicht in einem Garten. Doch mit seinem schwarzen Beanie und dem schlichten, grauen Kapuzenpulli ist er eher für einen Herbst- als einen wolkenlosen Frühlingstag gekleidet. Das letzte Viertel auf meinem Display bleibt noch schwarz. Der dritte im Bunde dieser britischen Band ist Sänger Oliver Garland. Er wird erst in ein paar Minuten dem Gruppenanruf beitreten.

Seit Ende 2017 oder Anfang 2018 – so genau erinnern sie sich selbst nicht mehr – macht das Trio zusammen Musik. Eine Party sollte sie damals von drei unterschiedlichen Lebenswegen auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Oliver wuchs in Thailand auf und war angehender Boxer. Harry strebte eine Karriere als Skateboarder an, die jedoch durch eine Verletzung verfrüht enden musste. Und Ashley hatte mit Angstzuständen zu kämpfen, durch die er sich manchmal monatelang von seinem Umfeld abschottete. Trotz dieser individuellen Hintergründe – alle teilen eine Leidenschaft für den gleichen Beat.

„Wir haben zwar unterschiedliche Einflüsse, doch wenn wir Songs schreiben, vermischt sich all das zu einem Ganzen und kreiert genau den Sound, der KOKO ist.“

Und noch etwas haben die drei Musiker gemeinsam, wie Ashley mir erklärt: „Wir haben alle diese“, der Gitarrist wedelt mit seinen Händen vorm Gesicht herum, während er mit gedämpfter Stimme einen verrückten Schrei mimt, „- Energie“. Auch bekannt als „KOKO Dreieck“. Denn schon so manche, die die Jungs das erste Mal in einem Raum vereint trafen, wurden von ihrer geballten Power überrollt.

Mittlerweile ist auch Oliver, oder kurz Ollie, aus seinem Wohnzimmer zu unserem Telefonat geschaltet und entschuldigt sich für die Verspätung. Er fasst sich zur Begrüßung kurz an den Schirm seines schwarzen Basecaps, das Ton in Ton mit dem T-Shirt geht, was er trägt. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie Ashley sich währenddessen ins Haus begeben hat. Entfernt ist irgendwo Hundegebell zu hören, zu dem sich Harry’s Stimme mischt.

„Wir haben tatsächlich ausschließlich an Songs gearbeitet, sehr viel geschrieben, entwickelt und ausprobiert, was für uns am besten funktioniert“,

antwortet der Bassist auf meine Frage, was sie in der Zeit zwischen dem besagten Kennenlernen und ihrer ersten Veröffentlichung als KOKO im November 2019 so getrieben haben. Und das dabei entstandene Material deckt nicht nur ihre Debüt-EP ab. Das Trio hat auch noch den ein oder anderen Song in Reserve, denn gedanklich sind die drei Engländer schon sechs Monate voraus.

Das verwundert mich nicht. Betrachtet man ihre bisherigen Veröffentlichungen – Songs, Artwork und Musikvideos – dann wirkt alles detailverliebt und durchdacht. Nicht so, als hätte man die letzten Monate nur ein paar Jamsessions in Vater’s Garage abgehalten. Das haben sie außerdem.

An die Debütsingle Freak schlossen sich drei weitere Songs an, Eyes So Wide, Tell Me Do You Care und Follow, wobei letzter Track namensgebend für die EP war. Alle Stücke, an deren Entstehung die Bandmitglieder zu gleichem Maße beteiligt waren, fangen diese besondere Stimmung ein. Diesen Moment zwischen Flackerlicht im Club mit den niedrigen Decken, von denen der Schweiß tropft. Und einem ersten Blick auf den vom Sonnenaufgang orange-pink gefärbten Himmel, wenn die U-Bahn an dieser einen Stelle aus dem Tunnel auftaucht.

Die Melodien sind umhüllt von Ekstase und wiegen gleichzeitig schwer, wenn die Sicht durch halb geschlossene Lider leicht verschwimmt. Im Remix von Freak vibriert der Boden, während er sich in der A.M. Version von Eyes So Wide langsam öffnet und die Euphorie darin versinkt, um einem Morgen danach den Weg zu ebnen. Dieser Charakter, der alle Songs des Trios durchzieht, kommt nicht von ungefähr. Jedes neue KOKO Stück wird der gedanklichen Probe unterzogen, ob es um vier Uhr morgens auf einem Feld mit vielen Leuten für Stimmung sorgen könnte.

„Wir lieben es, Festivals zu besuchen. Und kennst du diesen Moment, wenn der letzte Headliner gespielt hat und alle zu diesem einen Zelt gehen, wo jeder komplett abdreht?“ Ich nicke Harry bejahend zu, als Ashley ergänzt: „Und von der Musik, die dort gespielt wird, möchten wir unsere eigene Interpretation erschaffen.“

Das schreit ja schon fast nach einer perfekten Vorlage für Liveauftritte. Und fragt man die Jungs nach ihrem Ziel als Band, bekommt man die eindeutige Antwort: zu touren! Was der Reiz hinter eigenen Konzerte ist, teilt Ollie ohne eine Sekunde zu zögern mit: „Die Energie! Das Adrenalin! Diesen Rausch bekommt man nirgendwo anders.“ Bisher können KOKO nur ein einziges Konzert verzeichnen, im Londoner The Waiting Room. Doch diese Show im Januar sorgte bereits für eine Erkenntnis, die jeden kommenden Auftritt der Band prägen wird.

„Wir spielen keine Konzerte für das Publikum, sondern mit ihnen zusammen.“

Die Einbindung und Interaktion mit den Besuchern ist für Ashley, Harry und Ollie von großer Bedeutung. Selbst beim Komponieren der Songs ist ein kleiner Teil der Drei bereits im Club und testet das Bühnenpotenzial der werdenden Stücke. „Ob es eine kleine Zeile vor dem Refrain ist, die das Publikum uns entgegensingen kann oder etwas anderes – wir möchten immer ein Element im Song haben, das wir gut auf die Bühne bringen können.“

Das klingt nach einem wahren Erlebnis und ich würde bei dem Gedanken daran, dass der nächste Konzerttermin ungewiss ist, am liebsten wehmütig seufzen. Doch noch habe ich mein Handy mit den Videos dreier Bandmitglieder vor mir, die gerade versichern, dass sie so schnell es geht, für eine Show nach Deutschland kommen wollen. Das und lautes Vogelgezwitscher bei Harry im Hintergrund sind mir ein kleiner Trost. Bis es so weit ist, bleibt mir ja immerhin das aktuelle Musikvideo von KOKO und dessen atmosphärische Bilder in Dauerschleife.

Zu Tell Me Do You Care wurde bereits ein Video veröffentlicht. Vor kurzem folgte dann eines zu Freak, was die Episode der ersten EP mit einem schönen Rahmen umspannt. Visuell fährt das Trio in diesem Musikvideo neue Geschütze auf. Ihr pinker Farbcode wird gebrochen. Und zum ersten Mal steckt eine große Crew mit Kamera, Licht und allem drum und dran hinter der Produktion. Gedreht wurden die Sequenzen in einem umfunktionierten Club. „Es war ein langer Tag! Wir haben um sieben Uhr angefangen und waren gegen Mitternacht fertig. Aber für das, was wir geschafft haben, ist es schon beeindruckend“, erinnert sich Harry.

Das Trio tauschte ihre Ideen für die Bilder mit dem Regisseur Matthew Hoult aus, „der es wie einen dieser japanischen Horrorfilme aussehen lassen wollte – mit den Käfern zum Beispiel. Oder besonders an der Stelle, wo Ollie durch den Gang geschliffen wird.“ Auch dem Wunsch nach dem Effekt eines Fischaugenobjektivs wie in alten Hip Hop Videos wurde nachgegangen. Die düsteren und zum Teil unheimlich wirkenden Szenen sind das Silbertablett auf dem die Grundstimmung des Songs transportiert wird.

Vereinzelte gelbe und blau-grüne Farbtupfer im Musikvideo bringen die Band und mich dann wieder zu einem Gespräch über das Pink in ihren Coverartworks. Und ich beichte, dass ich bei der Kombination aus Rosatönen mit Schwarzweiß als erstes Yungblud vor Augen hatte. Das bringt Ashley zum Lachen: „Alle sagen immer, das Pink erinnert an The 1975. Aber mit Yungblud hat das bisher niemand verglichen.“ Ich erfahre auch, dass ich mich jetzt, wo die Debüt-EP veröffentlicht, das erste Projekt abgeschlossen ist, nicht zu sehr an das Pink gewöhnen sollte. „Doch was als nächstes kommt ist noch“, Ashley legt seinen Zeigefinger an die Lippen und grinst verschwörerisch, „-shh“.

Dieser Text ist auf der Grundlage eines Interviews mit Oliver Garland, Harry Dobson und Ashley C von KOKO am 09.04.2020 entstanden.