Liverpool, 18. Februar 2020, ca. 18:30 Uhr
Beim Gehen ziehe ich mein Handy aus der Jackentasche und drücke auf das kleine Chatsymbol. Ein weißer Hintergrund, von dem sich einige Sprechblasen abheben, leuchtet auf. Ich löse meinen Blick von dem Chatverlauf und sehe die Straße hinunter. Es nieselt leicht, in den Pfützen spiegeln sich warmgelbe Laternen. Eine Ecke weiter erkenne ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite bereits den kleinen Pub, in dem heut Abend das Konzert stattfinden soll.
Ich senke meinen Kopf wieder auf den hellen Bildschirm meines Handys, während ich zu meiner Linken nach einer silbernen Türklinke greife und die schwarze Tür zum „Blast From The Past“ aufdrücke. Der Laden wirkt wie ausgestorben. Nur ein Typ mit verwuschelten braunen Haaren sieht kurz von seinem Verkaufstresen in der Ecke auf, um mir ein freundliches Hello entgegenzurufen, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwendet.
Mit dem Ärmel meines Pullovers streiche ich über den Handydisplay, um die feinen Regentröpfchen darauf loszuwerden. Dann scrolle ich ans Ende des Chats, wo eine neue Nachricht auf mich wartet, die vor Kurzem aufgeploppt ist: „Wir werden so gegen 19 Uhr dort sein, müssen auch nicht ganz vorn stehen, da wir das schon oft genug hatten – und anscheinend passen eh nur 100 Leute rein.“
Klar, es ging um das anstehende Konzert. Und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich noch eine halbe Stunde Zeit habe, bis Jürgen und James hier eintreffen. Ich schreibe ein kurzes „Alrighty“ zurück, bevor ich das Handy wegstecke und mich in dem Laden umsehe. Verkauft werden hier Vintage-Klamotten und Vinyl. Ein mit Lichterkette und Schallplatten ausstaffiertes Schaufenster zog meine Aufmerksamkeit auf sich und nun beobachte ich durch eben dieses das Geschehen auf der anderen Straßenseite. Hin und wieder ziehe ich ein Album aus dem Regal und drehe es gedankenverloren in den Händen.
Ich stecke die Schallplatte, wie alle anderen zuvor auch, zurück in den Stapel und finde mich sogleich in dem Chat mit Jürgen wieder. Er sendet mir eine detaillierte Beschreibung seines Outfits, damit wir uns später beim Konzert erkennen. Der Typ aus dem Plattenladen legt gerade Dance Yrself Clean von LCD Soundsystem auf und nachdem ich Jürgen ebenfalls mein Outfit – ein schwarzes Sundara Karma Shirt – mitteilte, warte ich noch den Song ab, bevor ich den Laden verlasse.
Kaum bin ich durch die schwarze Tür nach draußen getreten, laufen zwei Männer an mir vorbei. Jürgen und James? Kann das sein? Ich sah den beiden hinterher, da sich mein Weg in die gleiche Richtung fortsetzt. Und sofort springt mir ein roter Glorious Sons Schriftzug auf dem Hoodie des einen Typen ins Auge. Wie es aussieht, liege ich mit meiner Vermutung richtig. Die beiden sehen sich um, bevor sie die Straße zum Pub überqueren. Mit etwas Abstand folge ich ihnen und stehe bald vor dem „Sound“.
Durch eine Fensterfront kann ich bereits von Außen einen Blick in das Eckhaus auf der Duke Street werfen. Robuste Holztische sind in dem Raum verteilt, in dem sich bisher nur vereinzelt Personen aufhalten. Die meisten haben ein Bier in der Hand oder vor sich auf dem Tisch stehen. Gezapft an der Bar, auf die man beim Betreten des Pubs automatisch zusteuert. Und so finde auch ich mich vor dem Tresen wieder, als sich einer der beiden Männer von gerade eben zu mir umdreht.
Ein freundliches Gesicht, eingerahmt von einer zotteligen, schulterlangen Frisur mustert mich nachdenklich. „Annekatrin, bist du das?“ Also habe ich mich mit der Vermutung, dass Jürgen und James vor mir den Pub betraten, nicht geirrt. Es wäre ein großer Zufall, in diesem Lokal in Liverpool mit Namen und auf deutsch angequatscht zu werden. Ich komme mit den beiden Männern ins Gespräch, während sie sich Getränke bestellen. Und schnell stellt sich raus, dass ich es mit zwei jung gebliebenen Fanboys mittleren Alters zu tun habe. Im Gepäck haben sie unerschöpflich vielen Anekdoten von Konzerten, Reisen nach Amerika für US Touren, Warteschlangen und ersten Reihen.
Jürgen kommt aus dem Süden Deutschlands, James aus Birmingham. Sie haben sich, wie soll es anders sein, bei einem Konzert kennengelernt. Einem The Struts Konzert, um genau zu sein. Die britischen Glamrocker sind die Lieblingsband der beiden, die bereis bei über dreißig Konzerten in verschiedenen Ländern dabei waren. James scrollt durch die Galerie auf seinem Handy, die zu großen Teilen aus Videos von Live-Shows besteht. Ab und zu streckt er mir ein Foto von sich entgegen, silber metallic Lidschatten und violetter Lippenstift zieren das Gesicht, daneben Jürgen mit gold glitzerndem Dreitagebart. Denn gerockt wird hier mit gepflegtem Glamour.
Abgesehen von heute. Aber zum düsteren Klang von King Nun hätte auch kein Glitzer gepasst. Wir haben uns mittlerweile ebenfalls an einem Holztisch niedergelassen, mir gegenüber sitzen die beiden Bandshirtträger. James wird immer wieder von dem Geschehen abgelenkt, das über einen der vielen im Raum verteilten Fernsehbildschirme flimmert. Ein Fußballspiel, das heut Abend stattfinden soll. Liverpool gegen Atlético Madrid, soweit ich das richtig mitbekommen habe. James ist Liverpool Fan und auch während des Konzerts nachher wird er zwischendurch einen schnellen Blick auf sein Handy werfen, um den Punktestand zu verfolgen.
Im Keller – dem „Sound Basement“ wird noch gewerkelt, wahrscheinlich baut die Vorband gerade ihre Instrumente auf. Ein paar punkig aussehende Jugendliche kommen zum Pub rein. Schwarzer Lippenstift, die Haare an den Seiten raspelkurz rasiert und in roter Farbe prangt das Anarcho-A auf den Schläfen. Die Gruppe schreitet auf eine plakatbehangene Tür zu, hinter der ein Treppenabgang in die unterste Etage führt. Zu meinem Erstaunen werden sie schon in Konzertraum gelassen. Jürgen und ich wechseln einen Blick, bevor wir entscheiden, den Jugendlichen zu folgen. Während James leere Biergläser an der Theke abstellt, zotteln wir schon die ausgedruckten Konzertkarten aus unseren Hosentaschen.
Ich bin nach dem abgesagten Konzert von gestern natürlich doppelt so aufgeregt und voller Vorfreude auf die Show, dass ich kaum den schmalen Treppengang hinunter steigen kann. Bevor wir links in den Kellerraum abbiegen, zeigen wir unsere Tickets vor. Treten dann ins schummrig beleuchtete „Basement“. Auch wenn Jürgen bereits angemerkt hat, dass die Kapazität nur an die hundert Leute umfasst, ist der Raum kleiner als ich mir vorgestellt habe. Begrenzt wird er durch nackte Backsteinwände, an denen hier und da bunte Wimpelketten auf halb acht hängen. Insgesamt wirkt die Venue eher wie ein Partykeller. Strahler blinken in verschiedenen Farben und verstärken diesen Eindruck.
Jürgen, James und ich platzieren uns am rechten Bühnenrand, der durch einen massiven Metallträger begrenzt wird. Langsam füllt sich der Raum mit Menschen, die keiner einheitlichen Zielgruppe zuzuordnen sind. Neben mir ein weißhaariger, alter Mann (der auch während des Konzerts zeitweise von den Fußballergebnissen faszinierter ist als von der Musik). In der ersten Reihe versammeln sich die Punks. Dann gibt es Pärchen und auch Jüngere, die Schulfreunde der Vorband zu sein scheinen. Und es dauert nicht allzu lang, bis der Supportact die beengte Bühne betritt.
Es sind vier Typen aus Liverpool, die uns nun Rock mit ein paar deutlichen Folk-Abstechern präsentieren. Der Sänger, der mich ein wenig an Declan McKenna zu seinen Schnurrbartzeiten erinnert, betont den Text außergewöhnlich. Wie ein Cowboygesang. Neben ihm an der Gitarre ein Typ mit schwarzem, mittellangem Haar, der ab und an eine Zeile ins Mikro schreit. Sein Instrument hängt eigentlich viel zu tief, als dass er mit den rosig tätowierten Armen noch drankommen könnte. Doch irgendwie haut er sein Riff raus und der Drummer mächtig aufs Schlagzeug. Durch die Lautstärke klingt alles etwas verzerrt, auch als der Bandname angesagt wird, kann ich den Lauten keinen Sinn zu ordnen.
Wie die zweite Vorband heißt, weiß hingegen ich noch! Bandit. Denn ich habe mich heimlich in die verliebt. Quasi schon, als sie zum ersten Song ansetzen und sich Jürgen direkt mit hochgezogenen Brauen, was wohl so viel wie „die sind gut oder?!!“ bedeuten soll, zu mir umdreht. So richtig verfallen werde ich der Musik dann nochmal in den nächsten Tagen der Tour, auf der ich ihre wenigen bereits veröffentlichten Songs ständig auf repeat höre. Besonders Waster und I’d Try Anything Twice.
Bandit sind das zweite Vierergespann, das heut die Bühne im „Sound Basement“ betritt. Schon etwas professioneller wirkend als ihre Vorgänger haben sich die Jungs auf der Bühne installiert. Der Gitarrist, die schwarze Haarpracht in Elvis-Manier nach hinten gegelt, entlockt den Saiten einige coole Melodien. Eine kleine gelbe Blumenblüte klemmt an seinem Hemd. Leider versperrt mir der Metallträger die Sicht auf Bassist und Schlagzeuger, also verfolge ich gebannt den Sänger. Zu Gitarrenrock Sounds singt er mit einem süßen Akzent die Zeilen. Wandert in drei Schritten von rechts nach links über die kleine Bühne.
Dann gibt es eine Premiere für mich. Die Band hält kurz inne, der Gitarrist nimmt auf einem Verstärker Platz und führ ein Bierbecher an den Mund. Während er einige Schlucke trinkt, verrät der Frontmann seinen kommenden Streich. Er hat ein Gedicht geschrieben und möchte es nun Vortragen. Doch da jede Strophe mit der gleichen Phrase endet, macht er daraus ein Trinkspiel. Also rezitiert er für das immer stiller werdende Publikum seine Reime. Für jedes „here’s to being alive“ wird das Glas gehoben. Ich glaube, die Leute die heut hier sind, haben auch so schon einiges getrunken.
Der Stimmungspegel steigt und als Bandit dem Ende ihres Sets entgegensteuern, quetschen sich die Mitglieder von King Nun im hinteren Teil des Raumes durch die Menge zum Merchstand, der schräg hinter Jürgen, James und mir aufgebaut ist. Zweiterer marschiert auch direkt zielstrebig auf den Hauptact des Tages zu. Denn James, Jürgen und die Band um Sänger Theo Polyzoides kennen sich bereits. Als Support für The Struts sind King Nun schon so einige Male von den beiden Fanboys gefeiert worden.
Alle klatschen, dann ein finales Umräumen auf der Bühne. Flackernde Bildschirme rahmen rechts und links das Schlagzeug ein, auf dessen Bass Drum in Tape zwei Worte prangen. King Nun. Weil es keinen Backstageraum gibt, bahnen sich die Bandmitglieder nun einen Weg durchs Publikum und auf die Bühne. Alles ist dunkel. Brausendes Getöse aus den Lautsprechern. Dann setzt das Quartett zum Auftakt ihrer Show an. Die Bildschirme beginnen zu flackern. Im Laufe des Konzerts wechseln sich Bilder und Filmsequenzen mit einzelnen Songlyrics ab und erleuchten die Bühne. Ansonsten gibt es keine weitere Lichtquelle. Vielleicht noch ab und zu das Blitzlicht von einer kleinen Fotografin, die sich durch die erste Reihe schlängelt.
Caius Stockley-Young legt los mit einem donnernden Schlagzeug. James Upton an der Gitarre und Nathan Gane am Bass. Theo hat heut ein schwarzes Kleid an. Spitzenmuster umhüllt die Schultern, ein Gürtel betont die Taille. Dazu wurde ein Paar Kniestrümpfe kombiniert und überall, wo noch die nackte Haut zu sehen war, prangen in schwarzer Farbe Stempelabdrücke. Ist das ein Gesicht, ein Porträt? Um wen genau es sich bei der Stempelvorlage handelt, werde ich den Sänger einige Tage später nach ihrem Hamburg Konzert fragen.
Mit vollem Einsatz springt Theo über die Bühne und schreit sich zu den Songs die Seele aus dem Leib. Er gibt das letzte, was von seiner Stimme übrig ist. Denn der Grund, warum das gestrige Konzert verlegt wurde, war Heiserkeit. Die Menge brodelt. Der ganze Raum ist in eine düstere und zugleich vor Energie knisternde Atmosphäre getaucht. Die beiden flimmernden Fernsehkisten auf der Bühne unterstreichen den Effekt. Nahtlos gehen die Songs ineinander über. Ein Gitarrentremolo, das Schlagzeug vibriert und ausschweifende, ausgelassene Instrumentals ergießen sich zwischen den Versen.
Eigentlich war das Set viel zu kurz. Doch den morgigen Auftritt in Manchester im Hinterkopf, bin ich nicht allzu traurig. Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr ich mich bereits auf den nächsten Tag freue und darüber, erneut in Bann von der kompromisslosen Musik King Nun’s gezogen zu werden. Wie im Rausch sehe ich aus den Augenwinkeln Jürgen und James, die bereits die Jungs begrüßen, sich T-Shirt und Setliste signieren lassen. Jetzt trete auch ich an den Merchtisch doch bekomme nur ein verstrahltes Winken zustande. Theo grüßt mich zurück und ich überlege, ob er mich wohl von unserem Interview drei Monate zuvor wiedererkennt, bevor er sich den nächsten Fans zuwendet.
Voller Glück erklimme ich die Treppenstufen und stehe bald darauf wieder im Pub. Dann auf dem Gehweg in einer recht milden Nacht in Liverpool. Krass ey. Meine Konzertbekanntschaft verlässt hinter mir das Sound. Gemeinsam gehen wir die Duke Street runter. „Wir gehen jetzt noch etwas snacken, möchtest du mitkommen?“, fragen mich die beiden, während sie einen McDonalds ansteuern. „Ach nein, aber wir sehn uns ja morgen nochmal, oder?“ Mit einem fetten Grinsen im Gesicht verabreden wir uns für ein pre Konzert Treffen morgen in Manchester.