FIKTION: DIE LADY MIT HUT

„Es war an einem Tag im Winter.“

„Hat es geschneit?“

„Unaufhörlich! Knietief ist man im Schnee versunken.“

„Und war die Luft auch klar vor Kälte?“

„Ja, es war klirrend, nein bitterkalt.“

„Ein schöner Tag, um ihn gemütlich im Bett eingekuschelt zu verbringen?“

„Ganz weit gefehlt. Ich habe mich rausgequält in den winterkalten Tag. Und sogar kurz überlegt, ob ich das Auto mit Schneeketten bestücken muss.“

„Wo bist du damit hingefahren?“

„Zur Arbeit, natürlich. Aber es gab nicht viel zu tun.“

„Hat sich das Aufstehen dafür also nicht gelohnt?“

„Doch, in gewisser Weise schon.“

„Ach ja?“

„Es war schon gegen drei Uhr nachmittags, da kam eine Lady in den Laden.“

„Was für ein Laden?“

„Wir verkaufen Kleidung aus zweiter Hand. Ganz ausgefallen oder schlicht, für jeden Anlass ist etwas Passendes zu finden.“

„Und die Lady?“

„War im Pariser Chic gekleidet, schon etwas älter und die rosa bemalten Lippen formten sich zu einer Frage, als sie zu mir an den Verkaufstisch trat.“

„Nach was hat sie verlangt?“

„Einem Hut.“

„Einem Hut?“

„Ja, einem Hut. Am besten mit großen Schleifen und breiter Krempe.“

„Wofür brauchte die Lady denn im tiefsten Winter einen Hut?“

„Der Anlass ist mir unbekannt.“

„Konntest du ihr denn weiterhelfen?“

„Aber natürlich! Wie gesagt ist im Laden immer etwas Passende zu finden. Doch normalerweise liefern wir nicht außer Haus.“

„Warum hat sie den Hut nicht direkt mitgenommen?“

„Die Lady hatte Angst, das schmucke Stück würde ihr im Schneesturm zerzaust. Sie war nur zu Fuß.“

„Dann bist du mit dem Auto gefahren?“

„Und wie ich gefahren bin! Rückwärts wegen der Glätte die steile Zufahrt zu ihrem Häuschen hoch. Aber der Aufschlag, den sie dafür zahlte, war nicht zu verachten.“

„Also sind Lady und Hut heil angekommen?“

„Die Lady hat mich sogar auf einen Kaffee eingeladen.“

„Du trinkst doch gar keinen Kaffee?“

„Stimmt, doch so konnte ich noch ein paar Minuten der Kälte draußen entfliehen.“

„Also gingst du mit in ihr Häuschen?“

„Ein wirklich schönes Häuschen! Urig eingerichtet, mit Spitzengardinen und gehäkelten Platzdeckchen am runden Kaffeetisch.“

„War das nicht seltsam bei der fremden Lady einzukehren?“

„Vielleicht ein wenig.“

„Hat der Kaffee wenigstens geschmeckt?“

„Ausgezeichnet. Aber weißt du, was noch besser war?“

„Was kann denn noch besser gewesen sein als der servierte Kaffee?“

Mit einer schnellen Bewegung führt sie die Tasse zum Mund und schlürft den letzten Schluck, bevor der Holzstuhl quietschend über den Fliesenboden scharrt und sie im Nebenzimmer verschwindet. Nach kurzer Zeit steht sie jedoch wieder in der Küche, wischt mit der einen Hand die imaginären Krümel von der Tischplatte, in der anderen hält sie eine Schallplatte. Mit dem Stuhl rückt sie nun noch ein Stück näher und beugt sich über den Tisch zu mir. Ehrfürchtig flüstert sie: 

„Diese Platte. Da konnte der Kaffee nicht mithalten.“

Social Cues von Cage The Elephant… Ist das irgendwie eine Sonderausgabe oder was ist so besonders daran?“

„Du erahnst nie, wie die Lady an dieses gute Stück gelangt ist.“

„Aber du wirst es mir sicher gleich erzählen?“

„Es war ein schwüler Sommerabend und ein Konzertpublikum drängt sich im verschwitzten Club.“

„Waren viele Leute dort?“

„So an die 800. Ausverkauft. Und mittendrin die Lady.“

„Die Lady geht auf Konzerte?“

„Unheimlich gern! Sie hat Livemusik in den letzten drei, vier Jahren für sich entdeckt.“

„Ist sie dafür nicht schon zu alt?“

„Das Alter hat seine Vorteile, erzählte sie mir. Ein Platz direkt am Tonmischpult, wie auf einer Insel inmitten der Masse, ist der Lady bei jedem Konzert zugesichert. Zumindest im besagten Club.“

„Von dem Platz ist das Geschehen auf der und rund um die Bühne sicher gut zu beobachten?“

„Die Lady sieht alles! Jeden Gitarrenwechsel; wenn der Sänger Kopfstand auf der Bühne macht oder ein betrunkener Besucher auf Händen durch den Saal schwebt.“

„Hört sich nach einem wilden Konzert an! Wer hat gespielt?“

„Cage The Elephant! Und wild war es tatsächlich. Sogar Hosen flogen aus dem Publikum auf die Bühne, weil sich die Leute scheinbar nicht nur ihrer verschwitzten T-Shirts während der Show entledigten.“

„Was für ein Outfit hat die Lady denn getragen?“

„Weiße Hose und Bluse, über die ein rosafarbenes Strickjäckchen geknöpft war. Und einen Hut.“

„Einen Hut?“

„Ja genau. Sie trug einen weißen, Cowboy-esken Hut.“

„Wurde ihr nicht warm mit der Kopfbedeckung?“

„Vielleicht. Doch sie nahm den Hut erst zum Ende des Konzerts ab.“

„Warum erst als es vorbei war?“

„Die Show war noch nicht ganz vorbei. Sie war an ihrem Höhepunkt schlechthin. In brausendem Schlagzeugtremolo warf sich der Sänger in die wogenden Wellen des Publikums. Mit freiem Oberkörper, die latexbehandschuhten Hände der Decke entgegen gereckt, ließ er sich quer durch den Club tragen. Und stoppte erst vor der Mischpultinsel.“

„Bei der Lady?“

„Bei der Lady.“

„Und was passierte als nächstes?“

„Die Lady klatschte begeistert und machte dem Sänger ein Kompliment für seine Handschuhe. Den extravaganten Geschmack bei ihrer Accessoire-Wahl haben die beiden wohl gemeinsam.“

„Hat der Sänger etwas darauf geantwortet?“

„Er sagte der Lady, wie chic er ihren Hut findet. Das hat ihr sehr geschmeichelt. Und nach einer kurzen Überlegung nahm die Lady mit einem Lächeln das gute Stück von ihrem Kopf und überreichte es dem Sänger.“

„Sie hat ihren Hut verschenkt?“

„An den Sänger von Cage The Elephant.“

„Und deshalb brauchte sie nun einen neuen? Für die nächste Konzertsaison?“

„Das war auch meine Vermutung.“

„Aber was hat all das jetzt mit der Schallplatte zu tun?“

„Diese Platte wurde Monate später im Club hinterlegt, adressiert an ‚die Lady mit Hut‘. Die Band hatte ein neues Album aufgenommen. Und wenn du genau hinsiehst…“