DIE IDEOLOGIE AUTHENTISCHER ROCKMUSIK

„Das alles klingt wie ein britischer Sturm, ein bisschen Pöbeln und eine gewisse Coolness stehen über allem […]. Aber eben so stimmig, dass der Noise-Faktor und die Hektik dieser geladenen Songs den Effekt von Authentizität verstärken.“ – Bedroomdisco 2021

„Über allem schwebt die Stimme von Sänger und Songwriter Charlie Steen, die sich ganz authentisch anhört wie das Ende einer Nacht nach gefühlt 20 Pints Bier und zwei Packungen Kippen.“ – Soundkartell 2018

Drunk Tank Pink wird große autobiografische Einflüsse haben und dadurch auch schonungslos ehrlich sein.“ – The Postie 2020

„Die Musik von Shame ist ungeschliffen, energiegeladen und äußerst authentisch.“ – Negative White Archiv 2018

„Liest du Reviews über deine eigene Musik?“ Charlie Steen, Sänger der britischen Band shame, blickt mich durch sein Handydisplay an und räuspert sich, bevor er mit „hmm, eigentlich nicht wirklich“ antwortet. Er sitzt auf dem Rand seiner Couch und entschuldigt sich für die schlechte Internetverbindung, die die Übertragung seines Gesichts mit dem blondierten Haarschopf manchmal verzerrt einfriert. „Wenn die Reviews gut geschrieben sind, ungeachtet dessen, ob sie eine gute oder schlechte Bewertung haben, dann werden wir sie sehen. Aber sobald ein Album bereits rausgekommen ist und es einigen Leuten gefällt, habe ich auch nicht mehr das Verlangen, Reviews nachzuschauen.“

Wenn er es trotz dessen täte, würde Steen besonders im deutschsprachigen Raum oft auf das Schlüsselwort „authentisch“ stoßen. Darauf stoßen, aber nicht wirklich darüber stolpern. Denn es ist ja eine allgemein logische Schlussfolgerung, dass Rockmusik (besonders die mit vielen Gitarren) Rauheit oder Rohheit und Gesang ohne Effektverfälschung Authentizität ausstrahlt. Oder? Womit genau hängt diese Beschreibung der Musik zusammen? Ich frage Steen, ob er eine Idee hat, was seine Band in den Augen des Publikums als authentisch auszeichnet. „Authentisch im Sinne von originell? Warte, lass mich das kurz googeln“, lacht der Sänger, während er eine Buchstabenfolge in die Suchmaschine eintippt.

Authentisch: unbestrittener Herkunft und keine Kopie; original. Synonym werden dazu auch die Begriffe echt, ehrlich, mit Integrität, aufrichtig, glaub- oder vertrauenswürdig verwendet.

„Ich bin der Meinung, dass nichts wirklich originell ist. Stehlen ist doch auch nur Inspiration, oder?“,

beginnt Steen in Hinblick auf die just ergoogelte Wortbedeutung und fügt mit einem frechen Lachen „a good writer writes, a great writer steals“ an. „Das Ding mit unserer Generation ist ja, dass wir von so viel inspiriert werden können – ob Hiphop oder Jazz, Blues oder Rock. Wir befinden uns am letzten Ende der Popkultur. Und alles wird zu einer Art Mischmasch. Die Ipod-Shuffle Generation.“ shame sind zwar keine Kopie einer bestehender Band und auch, wenn sie ihre eigene Note und Balance zwischen bestehenden Stilen gefunden haben, ist die Wiederholung eben dieser trotzdem nicht außer Acht zu lassen.

„Betrachten wir das Ganze im Sinn der Ehrlichkeit. Ich würde gern glauben, dass unsere Musik ehrlich ist. Denn das ist wahrscheinlich das Wichtigste, was man als Musiker tun kann. Insbesondere auch bei der Performance. Weißt du, in der Band schreibe ich nur die Texte und ich möchte dem treu bleiben, was ich sage. Denn dann erst ist man in der Lage, das auch auf einem ganz anderen Niveau aufzuführen“, beschreibt der Sänger, während er sich eine Zigarette in den Mundwinkel klemmt. Ich höre das Klicken des Feuerzeugs und Charlie Steen nimmt einige Züge, bevor ich all meine aufkommenden Gedanken wieder geordnet habe.

Das Konzept von Authentizität kann eine zentrale Herangehensweise bei der Wertung von (populärer) Musik sein.

Es muss nicht explizit auf den Klang verweisen, sondern kann ebenfalls den Schreibstil, die Performance, Produktion, Distribution, usw. in Betracht ziehen. Die Rockästhetik vereint dabei mehrer Aspekte, die scheinbar den Ausdruck von Authentizität und Attribute der Intimität und Unmittelbarkeit unterstreichen. Einen dieser Aspekte hat mein Gegenüber soeben beschrieben: es muss überzeugend sein, dass die Äußerungen ehrlich und mit Integrität getätigt werden. Als authentische Performance wird jene beschrieben, die Wirklichkeitstreue ausstrahlt. Die oftmals offen-direkte Artikulation von persönlichen, doch gleichzeitig gemein verbreiteten Erfahrungen, Bedürfnissen und Gefühlen kreiert einen Sinn der Dazugehörigkeit und Gemeinschaft, die die Rockauthentizität gleichzeitig zu einer sozialen Authentizität werden lassen.

Dieser Gemeinschaftssinn wird in der Rockmusik durch einen sogenannten DIY-Hintergrund verstärkt, von dem auch shame vermutlich unwissend Gebrauch machen. „Wir haben die Band gestartet, als wir ungefähr 16, 17 Jahre alt und im gleichen Schuljahr waren. Sean und ich, wir sind zusammen aufgewachsen und haben bereits gemeinsam Gitarre gespielt und gesungen. Genau wie Charlie und Eddie, die sich schon seit Kleinkindalter kennen. In den Sommerferien vor unserem letzten Schuljahr haben wir dann angefangen, als Band zu proben“, erinnert sich Steen an seine musikalischen Anfänge. Der Vater ihres Drummers nahm die fünf Jungs dazu ins Queen’s Head mit, einer Kneipe in Brixton. Und alles, was die jungen Bandmitglieder von da an machten, war: „drei oder vier Mal die Woche Gigs zu spielen, kein Geld zu verdienen und in der Schule die finalen Prüfungen zu verhauen.“ Mit einem Schmunzeln setzt der Sänger fort:

„Aber das war eben alles, was wir wollten. Musik machen.“

„Wenn ich nicht nachdenke und einfach meinem Instinkt folge. Das ist dann wie Meditation“, beschreibt Steen ein in seinen Augen gelungenes Konzert. Musik als ein natürlicher Strom an Emotionen, als kreatives Outlet oder dem unbefangenen Ausschütten all jener Dinge, die auf der Seele liegen und das ohne kommerzielle Interessen. Ein weiterer Punkt, der das Bild der authentischen Band zeichnet und Hand in Hand mit Annahme geht, dass Rockmusiker*innen ihre Skills vorwiegend selbst und nicht in einer formellen Ausbildung angeeignet haben. Einerseits unterstützt DIY-Ästhetik die Idee eines Musizierens ohne bewussten Plan oder Konzept. Andererseits stärkt es die Bindung zum Publikum, da eine kleinere Trennung zwischen Performenden und (musikalisch nicht professionell ausgebildetem) Publikum proklamiert wird.

„Ich glaube Josh, unser Bassist, hatte ein paar Stunden Musikunterricht. Die anderen vielleicht auch, aber nur sehr wenige. Wir haben uns hauptsächlich alles selbst beigebracht. Eine Band zu starten, ist wohl ein sehr guter Weg, um zu Lernen.“ Wo auch sonst? Denn wenn ich an meine eigene Schulzeit zurück denke, war Rockmusik wenig bis kein Teil des Unterrichts und der musikalischen Bildung. Hier spannt sich ein weiterer Abgrund im Vergleich zwischen „natürlicher“ und „künstlicher“ Musik auf, der ebenfalls die Konstruktion von Authentizität beeinflusst.

Diese Unterscheidung von natürlich und künstlich bezieht sich nämlich auf eine Gegenüberstellung von Natur und Kultur und darauf folgend von Populärer Musik und Klassik. In unserem (Schul-)System ist die Stellung von klassischer Musik gegenüber der populären (leider immer noch fest) verankert und prägt unterbewusst seit Kindesalter unsere Vorstellung und auch Wertung von Musik. Während Klassik mit formeller Ausbildung und Disziplin, „Unnatürlichkeit“ verbunden wird, ist zum Beispiel Rock eher informell, „natürlich“ und mit Spaß verbunden. So bekommt die Zuschreibung von „Natürlichkeit“ einen degradierenden Geschmack gegenüber der, von einer privilegierten, sich selbst als „höher entwickelt“ und „wertvoller“ betrachtenden Gesellschaft so festgelegten, „kunstvollen“ Musik.

Ein zweiter, wahrscheinlich verbreiteterer Gedanke zu dieser Unterscheidung fällt vermutlich auf „natürliche“ Rockmusik und „künstliche“ Popmusik, was zu großen Teilen mit der unterschiedlichen Nutzung von Technologie zusammenhängt. Auch wenn mittlerweile für Rockmusik die Nutzung von Technologien wie elektrischen Gitarren oder Mikrophonen, Verstärkern etc. unumgehbar ist, scheint der Klang doch noch „rauer und natürlicher“, direkter vermittelt zu sein als bei synthetischer Popmusik, die oft mit digitalen Stimmen und Instrumenten arbeitet. (Eine Frage, die sich dabei außerdem stellt, ist ab wann Rock- bzw. Popmusik definiert ist). Durch den unvermittelteren Klang des Rocks, der einfacher zu seiner Quelle zurückverfolgt werden kann, entsteht wiederum ein Gefühl der Authentizität.

Ist das der Grund, warum Gitarrenmusik auch im Jahr 2021 noch Relevanz hat? „Ich glaube, dass es zwar etwas mit der Authentizität zu tun hat, aber weniger in Verbindung mit dem Klang. Es spielt keine Rolle, was jemand macht, solang er oder sie es wirklich so meinen. Ob man mit der Nase Flöte spielt – das ist komplett egal. Wenn es ehrlich gemeint ist, wird es für andere Menschen einen Reiz haben. Die Kombination von Unterhaltung und Aufrichtigkeit. Jede*r respektiert Passion. Wenn jemand begeistert von dem ist, was er oder sie tut, anything can happen.“ Charlie Steen ist froh, Teil der wieder aufkommenden UK Gitarrenmusik zu sein. Denn die Band definiert nicht nur zu zwei großen Teilen seine Jugend, sondern ist in einer Form therapeutisch für den Sänger.

„Ich mag es zu reden, wie du vielleicht mitbekommen hast. Deswegen ist es irgendwie karthatisch. Im Grunde denke ich auf den beiden Alben nur laut. Auf die Frage, wie sehr ich mich selbst durch die Musik definiere, weiß ich noch nicht.. Das wird dann vielleicht das dritte Album“, schließt Charlie Steen lachend ab. Auf der Suche nach Authentizität im Rock und der persönlichen Wertung von Musik, gibt es viele Aspekte, die einander bedingen. Letztendlich führen individuelle Vorlieben zu neuen Lieblingssongs. Was der Sänger von shame an Musik am meisten schätzt? Kontext.

„Der Kontext von dem Moment, in dem du einen Song hörst. Die Erinnerungen, die du damit verbindest – ob es ein erstes Date ist oder ein Abend mit den Kumpels im Pub oder ein Festival, wo du im Vorbeilaufen eine Band spielen siehst, die du noch nicht kennst. Der Song wird dann Teil des Erlebnisses und ich denke, das ist, was ich daran wertschätze.“

Dieser Text, der vor allem das Nachdenken zum Thema „wie und warum Musik unterschiedlich wahrgenommen und bewertet wird“ anregen soll, basiert auf einem Interview mit Charlie Steen vom 08.02.2021 und den Aussagen folgender wissenschaftlichen Arbeiten:

Join Together with the Band: Authenticating Collective Creativity in Bands and the Myth of Rock Authenticity Reappraised – Adam Behr

Attitudes and values in learning to play popular music – Lucy Green

Authenticity as authentication – Allan Moore

Music for Meaning: Reading the Discourse of Authenticity in Rock – David Tetzlaff

Foto: Sam Gregg