ALL TOGETHER NOW

Ein markerschütternder Schrei zerreißt den sonst sonnigen Samstagnachmittag. Adrenalinrausch. Mit 9,81 Metern pro Sekunde beschleunigt der Körper im freien Fall. Die Füße sind mit einem elastischen Seil an der Hebebühne befestigt, kopfüber dem blanken Betonboden entgegenrasend. Ich steuere mit meinem Fahrrad direkt auf das Szenario zu, vorbei an der Bahnstation Warschauer Straße und zum Eingang des RAW Geländes. Mehr oder weniger gekonnt manövriere ich an den ganzen Schaulustigen vorbei, die ihre Handykameras dem blauen Himmel entgegenstrecken.

Dann blicke ich ebenfalls auf mein Handy. Doch nicht um ein Video zu machen, sondern mir eines anzusehen. Es zeigt rar besetzte Biergarten-Garnituren, eine bretterbeschlagene Bar und schwarze Sonnenschirme. Wäre im Hintergrund nicht ein Turm mit Boulderwand zu sehen, hätte ich den Ort der Aufnahme und mein heutiges Ziel fast nicht erkannt – der Kegel neben dem Cassiopeia. Also rolle ich über das mit Schlaglöchern versehene Gelände, zu beiden Seiten leuchten die Graffitis in der Sonne. Neben dem Cassiopeia schwinge ich mich vom Sattel und schließe mein Fahrrad kurzerhand an dem Terrassengerüst vom Emma Pea Café an. Dort war ich das letzte Mal zum King Nun Interview mit Theo. Heut darf ich dem Trio von Koko meine Fragen stellen.

Das Fahrradschloss klickt, ich schultere meinen Rucksack. Am Ende des Gangs, der links vom Musikclub, rechts vom Kegel begrenzt wird, winkt mir bereits die Band zu. Ich schreite unter der Diskokugel und einem Netz aus bunten Lichtern hindurch, dann stehe ich selbst in dem Biergarten. Neben mir ein Tisch, an dem Harry, Oli und Ashley in Begleitung ihres Managers sitzen. Jemand bringt die leeren Biergläser weg, während ich mich mit Ashley, dem Gitarristen der Band, über Frisuren und meine bereits verblichene grüne Haarfarbe unterhalte.

Das letzte Mal als ich die Gruppe sah, war Anfang April über den Bildschirm des Mobiltelefons. Wir verabredeten uns zu einem Videocall und der Release ihrer ersten EP Follow lag noch nicht lang zurück. Jetzt, fast ein halbes Jahr später, steht die Veröffentlichung ihrer zweiten EP bevor, Shows beim Reeperbahn Festival wurden gespielt und ein Ausflug nach Berlin geplant. Als sie mir damals am Telefon versprachen, dieses Jahr auf jeden Fall noch nach Deutschland zu kommen, habe ich nicht wirklich daran geglaubt. Und nun schreiten wir zu fünft über das Gelände, auf der Suche nach einer ruhigeren Ecke. Vom Badehaus erklingt Livemusik bei einem Sitzkonzert, unweit des Astra Kulturhauses der gelegentliche Schrei von Bungee Springenden.

Oli und Harry, den Handrücken fest gegen den Riemen der Handycam gepresst, filmen Nahaufnahmen von ihren zu Grimassen verzogenen Gesichtern und der bunten Kulisse. Dann überreichen sie den silbernen Rekorder mit Klappdisplay an ihren Manager, um sich neben mir auf einer Treppenstufe niederzulassen. Abgesehen von zwei Mädchen, die zu lateinamerikanischer Musik ein Tanzvideo filmen, sind wir hier ungestört und ich krame im Rucksack nach dem Handy für den Voice Recorder und im Gedächtnis nach einer ersten Frage für die britische Band.

„Wie wär’s, wenn ihr damit anfangt, dass ihr in Hamburg fast verhaftet wurdet?“, kommt es vom Koko Manager, der am Treppengeländer lehnt und mit einem breiten Grinsen die Handycam auf uns richtet. Sogleich tauschen die drei Jungs belustigte Blicke aus, bevor Harry zu einer Anekdote ansetzt, die auf dem Gebrauch von Elektrorollern in der Hansestadt basiert. „Wir sind in Hamburg mit so einem gefahren.“ Wohlwissend, dass pro Gefährt nur eine Person zugelassen ist, schwang sich Harry zu Oli auf den Roller und dann… naja: „Die Polizei ist aus ihrem Auto gesprungen und hat uns angehalten. Aber wir sind glücklicherweise nochmal davongekommen.“ Mit einem Augenzwinkern fügt Oli hinzu, dass sie ja „aus England kommen und das nicht wussten.“

So kamen Koko unbeschadet aus dieser Sache raus und für ihre beiden Auftritte beim Reeperbahn Festival auf die Bühne. Einmal unter freiem Himmel im Festival Village und einmal im Uebel und Gefährlich. Auch wenn die Konzerte unter den Corona-Beschränkungen stattfanden, ist das Trio glücklich wieder vor Publikum zu spielen: „Wir hatten einiges für den Sommer geplant, Gigs und Festivals. Wegen Covid konnten wir dann nicht viel machen, außer Musik zu schreiben. Deshalb war es umso schöner, wieder auf der Bühne zu stehen – auch wenn es etwas ungewohnt war, dass die Leute in kleinen aufgemalten Kästchen saßen.“

Nach kurzem Überlegen sagt Oli: „Es war schon etwas seltsam. Die Leute durften sich auch nicht so wirklich bewegen und wir sind ein tanzendes und springendes Publikum gewohnt,“ seine Hände spielen unruhig mit den Ärmeln seines Pullovers, der locker um die Schultern gelegt ist, „Aber diese Erfahrung ist trotzdem besser, als wenn wir es gar nicht gemacht hätten.“ Mit leuchtenden Augen versichert der Sänger die Liebe der Band zu Konzerten. Und auch wenn ein Virus sie aktuell von den Bühnen fern hält, über ausgelassene Shows und Traumauftritte zu fantasieren, lenkt einen Moment von der eher tristen Aussicht für Livemusik ab.

„Also als erstes würden wir in einem Raumschiff auf die Bühne kommen.“ Noch während diese Worte gesprochen werden, hört man bereits verrücktes und amüsiertes Lachen von den anderen Bandmitgliedern. „Wir würden in einer Arena auftreten, mit atemberaubender Lasershow. Es gäbe Bier umsonst, das unablässig in die Menge gegeben wird. Und im Publikum würden alle ihre Shirts ausziehen, verschwitzt vom vielen Tanzen. That’s what we want. Wir wollen, dass jede*r bei unseren Konzerten einfach eine gute Zeit hat.“

Auch in ihren letzten Veröffentlichungen versucht die Band, negative Gedanken durch einen optimistischeren Blick auszutauschen. Mit den Singles All Together Now oder So Nice To Meet You, die schon vor einiger Zeit entstanden sind, spiegeln sie unbeschwerte Momente, neue Begegnungen wieder. Beim Tanzen kurz die Alltagssituationen vergessen oder tongue out, get silly with it. Verbunden mit dem sorglosen Gefühl der Songs löst die Farbe Gelb der kommenden EP das Pink ihres Vorgängers ab. 

„Was würdest du denn als nächste Farbe vorschlagen?“, fragt mich Oli neugierig. Vergeben sind bereits pink, gelb, und rot für die beiden alleinstehenden, musikalisch aggressiveren Stücke (I Don’t Wanna) Start Fights und Now That I’m Wanting More. Doch ohne den Sound der kommenden Songs zu kennen, fällt mir keine passende Antwort ein. „Fair Enough… Es wird Clubmusik.“ Wieder müssen wir lachen, während der Sänger mit einem itzitzitz scherzhaft einen Beat imitiert. „Ist als nächstes denn wieder eine EP geplant oder kommt bald das Debütalbum?“, stelle ich die Gegenfrage.

„Jetzt sind wir ja grad bei der zweiten EP. Darauf folgen vielleicht noch ein, zwei. Wir wollen erst eine Fanbase aufbauen, bevor wir ins kalte Wasser springen und gleich zehn Songs auf einmal veröffentlichen. Aber ein Album wird kommen!“ 

„Ja! Denn wir sind ständig am Schreiben,“ schließt sich Ashley an die Erklärung von Harry an, „Wir schreiben selbst hier in Berlin an neuen Songs.“ Und das zum Beispiel zusammen mit der Künstlerin Nina Chuba. Die neue Stadt und neue Personen bringen dem Trio frische Energie und Ideen, gelegentliche Abwechslung im kreativen Prozess. „Es ist cool mit jemandem zusammenzuarbeiten, die den gleichen Vibe hat wie wir. Nachdem man so lange mit denselben Leuten im Studio steckt, macht es Spaß, sich auch mal mit anderen auszutauschen.“

Ashley wackelt mit seinen Latschen, in denen ein Paar weißer Socken stecken. Auf dem Kopf ein schwarzer Anglerhut mit St.Pauli Schriftzug und Totenkopf. „Coole Mütze!“ ruft eine Frau, die uns beim Vorbeigehen beobachtet hat. Ich muss grinsen, doch erst als Ashley unbeirrt mit seiner Beschreibung vom Songwriting Prozess fortfährt, fällt mir ein, dass die Jungs das Kompliment der Fremden ja gar nicht verstanden haben. 

„Ich glaube mit der Entwicklung von EP 1 zu EP 2 hat sich vor allem unser Denkvorgang geändert, was das Schreiben betrifft. Zu Anfang sind wir mit einem Plan in die Session gekommen und haben uns vorher Gedanken gemacht. Aber ein konkreter Plan kann meist nicht genau erfüllt werden. Wenn man stattdessen offen an die Sache rangeht, ist alles möglich. Wenn es gut wird, wird es gut und wenn nicht, dann eben nicht. Wir bekommen bessere Ergebnisse, seit wir nicht mehr im Voraus die Messlatte so hoch legen, dass wir dann nicht drüber kommen.“

Sie schreiben, was sie wollen. Im wahrsten Sinne des Wortes und ohne festes Genre. „Wer sagt, dass wir nächste Woche keinen Jazz Song veröffentlichen können?“, wendet sich Oli an die Runde. Es entbrandet eine Diskussion über Einflüsse und der Versuch, den Sound von Koko zu beschreiben. Zwischen Elementen aus Hip Hop, Dance Music und vielleicht Punk. Doch die Haltung bleibt Anti-Genre. „Wir wissen zwar, was wir wollen, aber wir können es nicht beschreiben, bevor der Song fertig ist.“

Und in der Regel sind neue Lieder bei Koko schnell in Sack und Tüten. „Nachdem wir anfangen zu schreiben, ist der Song in beinahe zwei Stunden fertig. Das geht schnell bei uns. Und wenn wir es am Ende des Tages nur bis zum Chorus geschafft haben, dann werden wir es wahrscheinlich nicht mehr abschließen und gehen direkt zum nächsten.“ Ich kann mein Erstaunen darüber kaum verbergen und frage das Trio, ob sich bei so einem kurzlebigen Prozess nicht im Nachhinein Zweifel an den getroffenen Entscheidungen oder Änderungswünsche einschleichen. 

„Kommt drauf an… Wir haben immer ein kleines Team um uns, das uns unterstützt. Wenn wir Songs geschrieben haben und sie dann zur Seite packen, kann es vorkommen, dass jemand sein Gefallen an einem bestimmten Element aus einem vorigen Stück äußert. Dann nehmen wir uns auch ältere Songs wieder vor und schauen uns das nochmal an“, erklärt Harry. Das gleiche gilt auch für die dazugehörigen Texte. Ein Beispiel dafür ist Eyes So Wide, den Oli direkt anstimmt, um mir den ursprünglichen Chorus im Vergleich zum jetzigen vorzuführen.

Ashley fasst das Ganze abschließend mit einem „Jeder Song hat seinen eigenen Prozess“ zusammen. Und dass das Studio einen großen Einfluss beim Entstehungsprozess von Koko’s Musik hat, bestätigt die Band mit nachdrücklichem Kopfnicken. Der Versuch neue Stücke in Hotelzimmern oder während der Quarantäne über Zoom zu komponieren wollte nicht so richtig gelingen. Es ist einfach nicht das selbe ein gemeinsames Treffen im Studio. „Wir lieben dort die Möglichkeit, direkt beim Herumprobieren die Freiheit zu haben, dazu zu tanzen und den Vibe auf uns wirken zu lassen.“ 

Anders als Gitarrenbands, die beim Jammen schreiben, erspürt das Trio die Dynamik des Songs im Raum, der zuerst mit einem elektronischen Beat erfüllt wird. Dann folgt das melodiöse Gerüst. Bei Ashley’s Erklärung dreht sich Oli kurz vom Treppenaufgang weg. Als der Sänger wieder schmunzelnd in die Runde blickt, deutet er mit dem Daumen hinter sich: „Ich liebe, dass es alle zehn Sekunden einen Schrei von diesem Bungee Jumping dort drüben gibt.“ Darüber müssen wir alle lachen. (Auch als ich dieses Interview anhand der Tonaufnahme abschreibe, amüsiere ich mich noch über die im Hintergrund ertönenden Soundeffekte).

„Ich würde übrigens niemals Bungee jumpen, also fragt mich das nicht! Ich habe Höhenangst.“ Ashley geht da einen Schritt weiter als Oli: „Ich würde aus einem Flugzeug springen. Aber nur wenn mich jemand, der das professionell macht, begleitet. Doch Bungee Jumping… Erst recht nicht mit dem blanken Beton als Aussicht.“ Harry nimmt zu dieser luftigen Thematik keine Stellung. Seine Sonnenbrille steckt in den wirren Haaren, während er belustigt mit dem Kopf wackelt. 

Dafür ist er der erste, der auf meine Frage nach aktuellen musikalischen Neuentdeckungen antwortet. „Daði Freyr! Wir hatten seinen Song Think About Things an, als wir uns fürs Reeperbahn Festival fertig gemacht haben.“ Oli hörte in letzter Zeit das neue Album von Charlie XCX. Ashley setzt auf Drake. Doch auch hier folgen Koko keinem Genre. Manchmal läuft die Massive Dance Hits Playlist, gefolgt von einem Elvis Album oder Johnny Cash. 

Dieser Kontrast schein Ashley zu faszinieren, der anfängt über die Relevanz von Album vs. Playlist nachzudenken. „Ein ganzes Album anzuhören, das hat schon einen roten Faden und macht Sinn. Und Musik heutzutage ist so vergänglich, nur noch Hit nach Hit.“ Darauf erwidert Oli etwas, das ich nicht verstehe und schneller als ich mich versehe, brechen die Jungs erneut in Lachen aus. Harry und Oli haben den gleichen Gedanken synchron ausgesprochen. Es folgt ein Schmunzeln, Abklatschen und Harry sagt: „Du schuldest mir ein Bier!“ Was Oli nur mit einem „wait what. I bought you like ten last night“ erwidert.

Schmunzelnd verlassen wir den Treppenaufgang, auf dem wir die letzte halbe Stunde verbracht haben. Wir streichen unsere Hosen glatt, Oli dreht seine schwarze Kappe mit dem Schirm nach hinten. Noch ein letztes Foto vor einer bunten Häuserwand. Dann trennen sich unsere Wege am Standort der Hebebühne wieder, nachdem wir kurz selbst die Springenden beobachten. Der Hebearm bis zur letzten Stufe ausgefahren und oben auf der Plattform gibt ein Typ den letzten Schubs zum freien Fall.

Dieser Text ist auf der Grundlage eines Interviews mit Koko am 19.09.2020 in Berlin entstanden.