Etwas desorientiert blicke ich die knallorangene Zeltplane an, die über meinem Kopf gespannt ist. Wachgerüttelt von einer dumpfen Bass Drum, die sich in mein Unterbewusstsein geschlichen hat und den ersten glockenhellen Klängen einer bekannten Melodie. Arche Gruber spielt im Hintergrund, ich erinnere mich wieder wo und warum ich hier bin – in meinem Zelt auf dem Immergut Festival, das ich knapp vor einer großen Regenschauer aufgebaut habe. Zu meiner Erleichterung stelle ich fest, dass es erst gegen 14 Uhr ist und ich den Drangsal Auftritt nicht verschlafen habe. Denn dafür bin ich doch nach Neustrelitz gereist, oder?
Fast richtig. Auch wenn Drangsal eines meiner vorher auserkorenen Highlights des Festivals sein soll, ist die Freude über Livemusik im Allgemeinen so groß, dass ich das gesamte Wochenende nur von einer Bühne zur nächsten und wieder zurück taumeln werde. Das Wetter ist eher schlecht. Die Pommes viel zu teuer. Doch meiner guten Laune tut das keinen Abbruch. In einem Mikrokosmos aus doppelt negativ getesteten oder getestet und geimpft/genesenen Festivalfans tanzt es sich unbeschwert in der ersten Reihe. Lautsprecher bis zum Anschlag aufgedreht vertilgen jedes Rascheln der Regenponchos, einem wichtigen Accessoire an diesem Wochenende.
Doch noch sitze ich im Zelt, der mittlerweile nachlassende Regen krümelt auf die Plane und vor mir ausgebreitet liegt eine Tagesportion an Proviant. Gestärkt und mit grün-pinkem Glitzer neben den Augen zwänge ich mich einige Minuten später durch den zu kleinen, weil kaputten Reisverschlussschlitz und schlendere über den Campingplatz. Der Einlass zum Festivalgelände, wo sich erst eine handvoll Personen aufhalten, hat gerade begonnen und ich geselle mich dazu. Opener für das 21. Immergut Festival ist an diesem Donnerstag Kaltenkirchen, der all in white gekleidet über die Bühne bounct und aus Prinzip mit einer Ausnahme keine alten Songs spielt.

Für mich geht es danach direkt zur nächsten Bühne, die ein paar Fuß entfernt links daneben aufgebaut ist. Nur das Tor zum Gelände backstage liegt dazwischen, ein langer Kabelkanal wirkt wie eine Trennlinie, die – einmal überschritten – schon den nächsten musikalischen Programmpunkt ankündigt. Es geht zu THALA mit ihrer mintgrün-blautürkisen Gitarre. Danach hüpfend vor die mit den Leuchtbuchstaben R I K A S geschmückte Bühne. Zurück über den Kabelkanal für einen dreisprachigen Auftritt von Sofia Portanet und Band, bevor Ilgen-Nur in der Abenddämmerung mit ihrem atmosphärischen Set das Publikum in den Bann zieht.
Auf meinem Zettel, den ich sorgfältig gefaltet in der Brusttasche meiner Lederjacke aufbewahre, folgt der Programmpunkt ÄTNA, die sich bereits auf der zweiten Bühne im Scheinwerferlicht räkeln und Clubstimmung auf das nächtliche Gelände bringen. Ich halte noch kurz an meinem Platz inne, abwägend ob ich für Drangsal bereits hier warten sollte, geselle mich dann aber zu dem zaghaft tanzenden äußeren Rand der Menschentraube, die sich um das Dresdner Duo gebildet hat. Come To Me schallt aus den Lautsprechern, danach tänzele ich langsam zurück. Beobachte auf der Drangsal-Bühne den Umbau und gefühlt keine fünf Minuten später strömen auch die anderen Leute herüber, um den mit Latexteufelsmaske bekleideten Künstler und seine neuen Songs aus dem Album Exit Strategy zu beklatschen, das in dieser Nacht veröffentlich wird.

Als der letzte Ton verklungen ist, das Jubeln noch nicht abebbt, wende ich mich bereits zum Gehen. Denn gleich beginnen nebenan Pabst ihr Konzert, laut und im strömenden Regen, mit Moshpit und Stagedive. Ich vergesse, dass meine Klamotten durchweicht sind und mir langsam kalt sein müsste und weiß, dass dies bereits jetzt einer meiner Lieblingsaufritte vom Festival ist. Leider ist er, man kennt es, viel zu schnell vorbei. Und ein Großteil des Publikums geht auch bereits oder verkriecht sich in ihren Zelten, obwohl der eigentliche Headliner des Tages gerade erst die Bühne betritt. Hundreds spielten für alle Regenschirmhaltenden verzaubernde Songs, auf die ich mich nicht ganz einlassen kann. Ich warte nämlich ungeduldig auf das folgende DJ-Set von Drangsal und Search Yiu, die angekündigt haben noch schlechtere Titel aufzulegen als Drangsals eigene. Laut dem Zeltplatzaustausch am nächsten Morgen ist dies auch grandios gelungen.
Meine Top 10 Lieblingsauftritte vom Immergut Festival 2021
- Molchat Doma
- alyona alyona
- Pabst
- Los Bitchos
- Blond
- Drangsal
- Rikas
- Voodoo Beach
- Odd Couple
- Albertine Sarges
Freitag, 12 Uhr. Da noch Zeit bis zum Start des heutigen Programms ist, entscheide ich mich für einen Spaziergang zum nächstgelegenen Supermarkt. Kiba und Knicklichter stehen auf meiner spontanen Einkaufsliste, die ich am Ende abhaken und um einen neuen Regenponcho sowie Müsliriegel erweitern kann. Ausgestattet für den kommenden Festivaltag und nach einem mehrstündigen Mittagsschlaf zurück im Zelt kann die Party beginnen. Oder besser gesagt die Lesung von Juliane Streich. Auf einer dritten, kleineren Bühne zwischen schmalen Birkenbäumen spielt sich heute und morgen das Festivalfrühaufsteher*innen Programm von 15 bis 18 Uhr ab. Kleine Grüppchen sitzen auf ausgebreiteten Decken und Jacken, die überraschenderweise noch nicht als Regenschutz herhalten müssen.
Als ersten Musikact sehe ich mir Albertine Sarges an und treibe auf einer Welle an verspielten Instrumentals zwischen Gesang und Sprechgesang und Vogelzwitschern. Hier gibt es Platz zum Tanzen, beim Blond Auftritt wenig später wogt das Publikum wie eine homogene Menge zur Musik und rüttelt an der Bühnenkonstruktion, die das Trio in ihren bunten Kostümen umrahmt.
Zwischendurch verweile ich für einen Snack kurz im Zelt, baumele mir grün und pinke Knicklichter ans Handgelenk. Irgendwie habe ich es dabei geschafft, eines kaputt zu machen und damit die Leuchtflüssigkeit meine Klamotten nicht versaut, wanderte das Stäbchen direkt in dem Müll. Wie gut, dass ich das spät in der Nacht wieder vergessen habe und dann geschockt vor meinen Zelt stehe, in dem bereits ein Licht – oder genauer gesagt der Müllbeutel – leuchtet…

M.Byrd ist gerade rechtzeitig zu seinem Auftritt angereist, mit dem Taxi da sein Auto auf der Strecke liegen geblieben ist. Am Vortag noch von Ilgen-Nur empfohlen, spielt der Newcomer aus Hamburg Indie fürs Getümmel. Danach sollte wieder ein Schritt über die Kabelkanalgrenze zur Bühne, wo Kat Frankie nun spielt, geschehen. Doch ich bleibe in der ersten Reihe vor einer sich leerenden Tanzfläche zurück. Nach dem Umbau tritt hier mein eigentliches Highlight vom Immergut Festival 2021 auf, Molchat Doma, ein Trio aus Minsk. Aufmerksam verfolge ich jeden Handgriff, die Instrumente von M.Byrd werden eingepackt. Bass, Synthesizer, Pedalboard und ein Mikrofonständer aufgetragen. In einem mit Stickern beklebten Lederkoffer ruht die Gitarre auf rot-samtigen Stoff gebettet, eine Gibson Flying V in cherry red und währenddessen schnallt sich der Bassist sein Instrument für ein paar Tests um.
Ganz in das Geschehen auf der Bühne versunken bemerke ich nicht, dass sich ein paar wenige Personen zu mir in die erste Reihe gesellen. Erst nachdem jemand „das ist doch diese TikTok Band!“ sagt, schrecke ich aus meinen Gedanken. Der Umbau ist beendet, mit zitternden Fingern wird noch einmal der Mikrofonständer gerichtet, ein Zug von der Zigarette genommen. Dann wird alles in Dunkelheit getaucht, Nebel breitet aus und drei schwarze Schatten platzieren sich nebeneinander vor dem Publikum. Der Sänger steht reglos in der Mitte, erst als die Melodie einsetzt fängt er an sich zu bewegen. Indem er kontrolliert seinen Kopf im Rhythmus nickt.

Ab da ist’s bei mir vorbei und ich muss weinen. Die Intensität der Musik, die mich zuhause über Kopfhörer zwar schon immer begeisterte, wird live und in Präsenz ihrer Initiatoren so überwältigend gesteigert, dass ich ganz überfordert bin. Aber im guten Sinne. Mit Faszination betrachte ich den Auftritt und inhaliere quasi jede Note, jede Bassline und jeden zuckenden Tanzschritt vom Sänger. Hinter mir spüre ich nur das Rumoren der tanzenden Menge, irgendjemand wirft Konfetti. Dann ein „Spasibo“ und schon ist die Ekstase vorbei, keine Zugabe. Doch das stört die meisten aus dem Publikum nicht, die sich schnurstracks zum nächsten Programmpunkt bewegen.
Bei Festivals ist das ja so, dass man das Konzert nicht direkt verarbeiten kann. Man fährt nicht danach nach Hause und kann in Ruhe all die Bilder im Kopf sortieren. Denn in der Regel geht es gleich im Anschluss auf einer nächsten Bühne weiter. So wie jetzt. Aber beim besten Willen, I’m sorry, Giant Rooks können mich nun absolut nicht mehr flashen. Also bleibe ich vor der leergeräumten Kulisse meines Lieblingsauftritts und lass mich auf den Boden sinken, hole mein Handy heraus und recherchiere, wo Molchat Doma als nächstes auftreten. Erreichbar wäre das Maifeld Derby in Mannheim, also kaufe ich dafür ein Ticket. Und Zugfahrkarten (ich weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die Bahn wegen Streik ausfallen wird und ich mich damit für ein Abenteuer mit Fahrgemeinschaft und Nachtwanderungen eingeschrieben habe). Dann gehe ich zum Zelt, aufnahmeunfähig für neue Eindrücke. Schnell schiebe ich mir noch ein paar Brocken Fladenbrot hinter, bevor ich mich mit Molchat Doma auf den Ohren in den Schlafsack lege.
5 Ideen für Fladenbrot auf einem Festival
- Du kannst es essen.
- Du kannst es im Tausch gegen Hilfe beim Zeltaufbau einsetzen
- (Bei besonders fluffigen Exemplaren) Du kannst es als Kissenersatz verwenden.
- Du kannst es benutzten, um deinen Schuhen die Feuchtigkeit zu entziehen.
- Du solltest damit NICHT die Enten füttern.
Es ist Samstag und der letzte Festivaltag bricht an. Es wird wieder regnerischer, doch das ist nicht wirklich der Grund, warum ich heut öfter mein Zelt ansteuere. Das Line-Up hält nur zwei, drei Acts bereit, die ich unbedingt sehen möchte. Den Rest der Zeit liege ich unter der orangenen Plane und höre Na Dne von Molchat, während mir immer wieder unkontrolliert die Tränen kommen. Don’t ask me why. Einen Auftritt, den ich mir ansah, war der von Los Bitchos. Im Matsch tanzend sorgt die Instrumentalgruppe auch am letzten Nachmittag für Schwung und strahlende Gesichter. Ihre Energie steckt an und das ist auch gut so. Denn mein nächster Gang führt mich vor die Bühne, wo die ukrainische Rapperin alyona alyona abreißt. Ihr Set ist eine wahre Explosion. Ich glaube, ich war noch nie bei einem Rap-Konzert und so etwas habe ich nicht erwartet. 101/10!
Ganz angesteckt renne ich fast zu Odd Couple, die ich nun schon das zweite Mal in diesem Sommer sehe. Es war nicht weniger genial als davor. Sogar ein kleiner Blumenstrauß ist für Dekorzwecke auf die Bühne getragen. Ich erinnere mich, dass ich sehr viel gesprungen bin und mich an der metallenen Absperrung festklammern musste, um nicht umzufallen. Nach ihrem Set bin ich straight ins provisorische Bett. Sehr fertig, aber sehr glücklich.










Vielen lieben Dank ans gesamte Team vom Immergut für das schöne Festival!